Ich beantrage den Tod

Literatur Der französische Schriftsteller Pierre Drieu la Rochelle war vieles, auch Faschist. Sein Erzählungsband „Die Komödie von Charleroi“ ist dennoch lesenwert

Hatte sich als Konservativer und Linker versucht, bevor er Kurs auf den Faschismus nahm: Drieu la Rochelle Foto: Albert Harlingue/Roger Viollet/Ullstein

von Robert Mießner

Der französische Dichter und Dandy Charles Baudelaire zitierte einmal zustimmend den Literaturkritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve: „Um die Seele eines Dichters zu erraten, oder zumindest das, was ihn vor allem beschäftigt, durchforsche man seine Werke nach dem Wort oder den Worten, die darin am häufigsten auftreten. Dem wird man entnehmen, wovon er besessen ist.“ In „Die Komödie von Charleroi“ des Schriftstellers und Dandys Pierre Drieu la Rochelle sind es zwei Wörter, die sich mal als Motiv, mal als Signal durch die sechs Erzählungen dieses neu übersetzten Prosabandes ziehen. Das eine ist der Bürger, das andere der Krieg.

Als „nach Erfahrung lechzender Bourgeois“ stellt sich einer der Protagonisten Drieus vor. Seine Erfahrungsquelle wird der Erste Weltkrieg, in dem sämtliche Texte der „Komödie von Charleroi“ angesiedelt sind. Die einen direkt, die anderen später reflektierend. „Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ hat der britische Historiker Eric Hobsbawm den Krieg von 1914 bis 1918 genannt. Beim Lesen der Texte Drieus ahnt man, warum.

Ihr Autor kommt aus bürgerlichem Elternhaus, hat eine katholische Knabenschule besucht, sie als Atheist verlassen und sich dann als gescheiterter Politikstudent in den Krieg geworfen. Der bietet anfangs, was das geduckte, geordnete Leben nicht einzulösen vermochte. In der Titelgeschichte der „Komödie von Charleroi“ wird „ein furchtsamer, drückebergerischer, pessimistischer Bourgeois“ im Angriff plötzlich zum Anführer, zum Chef: „Auf einmal kannte ich mich, kannte ich mein Leben. Das war also ich, dieser Starke, dieser Freie, dieser Held. Das also war mein Leben, dieser Aufbruch, der nie mehr enden würde.“

Droge Krieg

Der Krieg wird zur Droge: „Ich wollte mich all dieser Männer um mich herum bemächtigen, durch sie stärker werden, sie durch mich stärken, und uns alle, mich an der Spitze, durchs Universum schleudern.“

Der Kater gerät umso grauenhafter. In „Die Reise zu den Dardanellen“ erlebt Drieus Protagonist (es darf davon ausgegangen werden, dass diese Texte hochgradig autobiografisch sind) die Balkanfront: „Wir stoßen auf die Laufgräben, die wir vor acht Tagen schwitzend ausgehoben haben. Sie sind verdreckt, voll von all den scheußlichen Abfällen, die sich mit dem Krieg sofort anhäufen: Konservendosen, Arme, Gewehre, Beutel, Kisten, Beine, Scheiße, Geschosshülsen, Granaten, Stofffetzen und sogar Papiere.“ Zum Ende hin, in „Der Oberleutnant der Tirailleurs“, ist Europa „für immer ein Bahnhof im Nirgendwo geworden.“ Und: „Ja, der Hass, das ist es. Ein schrecklicher Hass auf alles überkommt uns.“

Ein Hass, der sich Wege suchen wird. Als Drieu 1934 bei Gallimard die „Komödie von Charleroi“ veröffentlicht, ist er Begleiter der Surrealisten gewesen, hat sich als Konservativer und Linker versucht. Jetzt nimmt er Kurs auf den Faschismus. Drieu engagiert sich unter der deutschen Besatzung für das Vichy-Regime, wird einer der Wortführer der Kollaboration: „Bisher hat mich alle Welt verachtet, ohne zu wissen, warum. Von jetzt ab wird man mich noch mehr verachten, und man wird wissen, warum.“

Ein fürchterlicher Satz, geschrieben von einem Mittvierziger und Frauenmann, den eine seiner zahlreichen Frauen dafür links und rechts hätte ohrfeigen und sagen sollen: „Werd erwachsen, Junge.“ Doch Drieu schrieb am Anfang seiner Lebensbeichte „Geheimer Bericht“ (in den Neunzigern verlegt bei Matthes & Seitz): „Als ich heranwuchs, gelobte ich mir, der Jugend treu zu bleiben: Eines Tages habe ich versucht, Wort zu halten.“ Bevor der zutiefst enttäuschte Drieu im März 1945 – er musste nach der Befreiung mindestens mit seiner Verhaftung rechnen – einen letzten, diesmal erfolgreichen Selbstmordversuch unternimmt, wünscht er dem Kommunismus den Sieg. „Geheimer Bericht“ schließt mit: „Wir haben gespielt, ich habe verloren. Ich beantrage den Tod.“

Wo er gespielt hat, hat er auch gewählt. „Die Komödie von Charleroi“ erzählt von den Möglichkeiten. Zu ihnen gehört die totale Verneinung, gewählt angesichts der Schlacht von Verdun: „Da habe ich der Welt abgeschworen – übrigens ganz vergeblich.“ An anderen Stellen des Bandes blitzt jedoch etwas anderes auf. In dem Dialogstück „Der Deserteur“ lässt Drieu diesem das letzte Wort. Er diskutiert mit einem, der das eherne Gesetz des Krieges verteidigt und fragt, worin das Leben bestünde. Der Fahnenflüchtige weiß: „Atmen, gehen, die Arme ausstrecken, essen, trinken, rauchen, lieben. […] Da ist alles drin, wenn man es richtig macht.“

Anmaßung und Absturz

Sollte man nun Drieu la Rochelle, „Phallokrat, Judas, Faschist, Rassist“ (Joachim Sartorius), lesen? Man sollte. Nicht nur, weil er ein begnadeter Stilist war, seine Prosa Drive und Rhythmus hat. Sie erzählt von Anmaßung und Absturz. „Die Komödie von Charleroi“ zeigt ein Denken am Kreuzweg, da, wo es bereits problematisch geworden ist, aber noch in die entgegengesetzte Richtung hätte gehen können. In dem überaus lesenswertem Nachwort setzt der Literaturkritiker Thomas Laux auf einen mündigen Leser. Es war Bertolt Brecht, fünf Jahre jünger als Drieu, der in seinem Nachkriegsfragment „Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer“ meinte: „Die Erkenntnis kann an einem anderen Ort gebraucht werden, als wo sie gefunden wurde.“

Pierre Drieu la Rochelle: „Die Komödie von Charleroi“. Erzählungen. Aus dem Französischen von Andrea Spingler und Eva Moldenhauer. Manesse Verlag, Zürich 2016, 288 S., 24,95 Euro