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Archiv-Artikel

Die Gefahr wächst

AUS BERLIN NICK REIMER

So viel ist sicher: Bei dem in der Türkei nachgewiesenen Virus der Vogelgrippe handelt es sich um H5N1. Dieser hochpathogene Stamm ist auch für die Menschen gefährlich. Ob es sich allerdings bei dem im rumänischen Donaudelta gefundenen Erreger auch um H5N1 handelt, war gestern unklar. „Klar ist lediglich, dass es ein H5-Stamm ist“, erklärte Jürgen Trittin, der derzeit auch die Geschäfte des Bundesverbraucherministeriums führt. „Ob der Stamm aber N1 oder N4 heißt, muss noch geprüft werden.“

Die EU-Komission hatte am Mittwoch erst Entwarnung gegeben, diese gestern aber zurücknehmen müssen – was Trittin „vorsichtig formuliert als höchst unglücklich“ bezeichnete. „Die Kommission sollte erst dann Aussagen treffen, wenn die Grundlagen dafür valide sind“, so Trittin. Wann geklärt ist, ob die rumänischen Erreger H5N1 sind, konnte gestern niemand prognostizieren.

Jedenfalls kommt das gefährliche Vogelgrippe-Virus immer näher. „Es war von Anfang an richtig, davon auszugehen, dass der schlimmste Fall eintreten kann“, erklärte Trittin, der damit die Politik seiner Parteikollegin Renate Künast verteidigte. Ihr war im Wahlkampf zuweilen Panikmache vorgeworfen worden. Und die Vorsorgepolitik soll weiter verstärkt werden: Der nationale Krisenstab beschloss gestern, Kontrollen auf Flughäfen zu verstärken.

Das ist das eigentlich Erstaunliche: „Mehr Sorge als die Zugvögel bereiten uns unvorsichtige Reisende“, erklärte Trittin. Aktuell gehe der Vogelzug erstens von Deutschland in den Süden. Zweitens sei noch nicht nachgewiesen, dass Zugvögel in der Lage seien, das gefährliche Virus zu übertragen. „Ein internationales Forscherteam prüft gerade die Vogelgrippe-Fälle in Russland“, so Trittin. Auffällig sei dort nämlich, dass die bekannt gewordenen Fälle entlang der Transsibirischen Eisenbahn zu finden sind. Deshalb verstärkte Kontrollen: Binnen 30 Tagen fanden die Kontrolleure am Frankfurter Flughafen in 608 Fällen aus verbotenen Ländern importiertes Federvieh – oder Produkte selbiger. „Wo wir suchen, finden wir auch“, erklärte Alexander Müller, Staatssekretär im Bundesagrarministerium.

Dennoch warnte Müller vor Panikmache: „Wer nicht im Geflügelstall arbeitet, hat nichts zu befürchten.“ Einen Impfstoff könne man zudem erst erforschen, wenn sich H5N1 so gewandelt hat, dass er von Mensch zu Mensch übertragbar sei.

Aktuell keine Gefahr – das Hamburger Tropeninstituts sieht das genauso. „Die Vogelgrippe ist eine Art Berufskrankheit“, sagte Barbara Ebert, die Sprecherin des Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin. Bislang hätten alle Infizierten engen Kontakt zu infiziertem Geflügel gehabt. Für eine mögliche Übertragung auf den Menschen sei eine hohe Virendosis nötig. Ebert: „Dies zeigt schon die Tatsache, dass es in Asien Millionen verendeter Vögel, aber nur rund 60 gestorbene Menschen gibt.“ Es ist ein statistisches Problem: Seit Jahren ist das Risiko bekannt, dass sich ein Vogelgrippe-Virus mit einem menschlichen Grippevirus zu einem neuen, gefährlicheren Erreger vermischt. Ebert: „Dieses Risiko steigt, wenn es wie derzeit extrem viele Erkrankungen bei Vögeln gibt.“

Natürlich gibt es auch die ersten Vogelgrippe-Gewinner: Zunehmende Ausbreitungsangst hat die Aktienkurse von Pharmaunternehmen in die Höhe getrieben. Bereits vor der Türkei-Meldung notierte der Schweizer Konzern Roche auf einem neuen Allzeithoch. Roche stellt das Grippemittel Tamiflu her, die Weltgesundheitsorganisation hatte dieses Mittel zum Schutz empfohlen. Die Folge: Im ersten Halbjahr 2005 kletterte der Tamiflu-Umsatz um sagenhafte 363 Prozent auf 580 Millionen Franken. Roche will die Produktion von Tamiflu bis Ende 2005 verdoppeln.

Noch ein Tipp vom Minister: „Wer wirklich sicher gehen will, sollte Geflügel gut garen“, so Trittin, „dadurch wird das Virus zerstört.“