Schwabbelnde Arme

Pop „Small Talk“, das wunderbare Debüt des talentierten US-Singer-Songwriters Benjamin Wilson

Schon die Vorgeschichte ist charmant: Vor ein paar Monaten schickte der US-Mathematikstudent Benjamin Dean Wilson aus Tulsa, Oklahoma, einige selbst komponierte Songs auf gut Glück an das Hamburger Label Tapete. Zuvor hatte er diese im Alleingang aufgenommen. Bei Tapete kannte den Absender niemand, auch das Internet spuckte keine Infos aus, aber die Mitarbeiter waren begeistert – und veröffentlichten das Debüt-Album des 25-jährigen Singer-Songwriters. Es heißt „Small Talk“ und ist ganz wunderbar geworden. „Ich mag die Absurdität von Frank Zappa, die Ehrlichkeit von Shel Silverstein und die Intimität von Leonard Cohen“, erklärt Wilson. Zwar ist er von jenen Vorbildern selbstredend noch ein ganzes Stück entfernt, aber er befindet sich auf einem guten Weg. Entspannt, mit sparsamer Instrumentierung und ohrenschmeichelnder Singstimme schleicht sich Wilson heran. Akustikgitarre, Bass, Schlagzeug und Klavier bilden das Gerüst seines melodiösen und warmen Folk-Pop. Fast vergisst man, auf die großartigen Texte zu achten.

Ohne Bart

Junge bärtige Männer mit Klampfe neigen zur Introspektion und klagen jammernd gesellschaftliche Missstände an. Wilson hat nichts dergleichen im Sinn. Er interessiert sich für skurrile Geschichten sowie für das Scheitern von Menschen, die keine existenziellen Nöte verspüren und dennoch vom Elend des Alltags gepeinigt werden. Auffällig oft geht es um Ältere: So handelt „Sadie And The Fat Man“ von einen Familienvater, der seine Gewichtszunahme beklagt, aber nichts gegen die schwabbelnden Arme unternimmt, dafür aber viel schläft und auf dem Dachboden Briefe von seiner ersten Liebe liest. In „So Cool“ lernen die Hörer einen Highschool-Lehrer kennen, der sich für lässig hält, aber auf dem Schulklo onaniert. Mal gibt Wilson den allwissenden Berichterstatter, dann wieder den Ich-Erzähler. Seine Texte sind oft tragikomisch: Der Künstler blickt amüsiert auf seine Figuren, aber ohne Hochmut und immer mit einem gewissen Mitgefühl. Auffällig ist die außergewöhnliche Länge mancher Songs. „Ich bin nicht angetreten, um radikal mit dem Konzept des klassischen 3-Minuten-Stücks zu brechen“, sagt Wilson. „Aber so, wie ich einen Freund niemals mitten im Gespräch ins Wort fallen würde, kann ich auch meine Figuren nicht abwürgen. Es geht um ihr Scheitern und ihre Triumphe, und das braucht Zeit.“

Picknick zu dritt

Höhepunkt des exzessiven Storytellings ist das 14-minütige Epos „Rick, I Tick Tock …“, das Wilson in drei Akten und Epilog mitsamt Regieanweisungen darbietet. Es geht darin ungefähr darum, dass zwei Freunde auf der Fahrt zum Büro eine Frau kennenlernen, blau machen und zu dritt ein Picknick im Park veranstalten. Derweil muss die Frau des einen Mannes ihren Sohn zum Arzt bringen, weil der von einem Hund gebissen wurde. Auf dem Weg zum Doktor entdeckt sie die Picknickrunde, was zu Ärger führt und Wilson erlaubt, auf höchst unterhaltsame Weise die Tristesse der bürgerlichen Ehe zu erörtern. Als Jugendlicher drehte Benjamin Wilson Kurzfilme mit einer 16-mm-Kamera und schrieb Theaterstücke. Irgendwann komponierte er die Musik für seine Filme selber und erkannte, dass er die für die Leinwand verfassten Storys auch in Form von Songs transportieren kann. Ob das ein Verlust für die Filmwelt ist, lässt sich nicht beurteilen. Ein großer Gewinn für die Musikwelt ist sein vollzogener Kurswechsel allemal.

Sven Sakowitz

Benjamin Wilson: „Small Talk“ (Tapete/Indigo)