piwik no script img

Ein Leben ohne Lügen

Alltag Immer ehrlich sein. Aleksa und Jura folgen dem Radical-Honesty-Prinzip und wollen so ein zwangloses und glückliches Leben führen

Von Pascal Tonnemacher und David Wünschel

Drückende Hitze liegt über Berlin. Aleksa sitzt in Tanktop und Shorts in einem Café am Mehringdamm in Kreuzberg. Ihre zusammengesteckten Haare sind auf einer Seite stoppelkurz rasiert, am rechten Ohrläppchen baumelt ein hölzerner Ohrring. Auf dem Tisch liegt die Getränkekarte, doch Aleksa ignoriert sie. „Ich hätte gern etwas Kaltes.“ „Schaunse doch da rein, da steht alles“, sagt die Kellnerin. „Nee, dazu hab ich jetzt kein Bock! Ich nehm das gleiche wie die beiden“, erwidert Aleksa. Eine kleine Apfelsaftschorle also.

Ungewöhnlich patzig, aber auch ungewöhnlich ehrlich – und deshalb typisch für die 37-Jährige. Sie versucht immer zu sagen, was sie gerade denkt und fühlt. Seitdem die Berlinerin vor zwei Jahren das Radical-Honesty-Konzept für sich entdeckt hat, lebt sie ein Leben ohne Lügen und Geheimnisse. „Lügen sind wie ein Käfig. Sie halten uns gefangen und sperren uns ein“, sagt Aleksa.

Früher hatte sie mit Depressionen zu kämpfen, mittlerweile arbeitet sie an ihrer eigenen Musik. Durch ihre Lebensweise löst sie sich nun von gesellschaftlichen Zwängen und will intimere und glücklichere Beziehungen führen. Schritt für Schritt. Ihrer Mutter gegenüber hat sie immer noch Hemmungen, komplett ehrlich zu sein.

Denn diese knallhart offene Art steht oft in Konflikt mit gesellschaftlichen Konventionen. Wo liegen die Grenzen der radikalen Ehrlichkeit? Ist es nicht dieses tagtäglich dahingesagte „Mir geht’s gut“, das Schutz bietet und unsere sozialen Beziehungen aufrecht erhält? Wer will schon die Menschen aus seinem Umfeld durch die eigene Ehrlichkeit provozieren?

„Das ist nicht der Kern der Sache“, sagt Taber Shadburne. Der 53-jährige Psychotherapeut aus Oakland leitet seit zwanzig Jahren Radical-Honesty-Workshops. Dort erläutert er den Teilnehmenden, wie Vertrautheit entstehen kann, indem man sich öffnet. „Wir wollen wahrgenommen und geliebt werden, mit all unseren Facetten“, sagt Taber. „Das geht nur, wenn wir aufhören mit dem ständigen Lügen, Leugnen und Zurückhalten der Wahrheit.“

Bedingung für die radikale Ehrlichkeit sei daher, die Angst vor Zurückweisung zu überwinden. Freunden und Familie also die Dinge zu erzählen, für die man sich schämt. Dem Umfeld empathisch die eigenen Gedanken zu vermitteln und sich so von der ständigen Last der Lügen und Geheimnisse zu befreien. „Wenn wir die Gefühle aussprechen, verschwinden auch Stress und Distanz.“

Ziel sei jedoch nicht, sich den Unmut über die Mitmenschen von der Seele zu reden. „Das wäre idiotisch und das Gegenteil von Radical Honesty“, sagt Taber. „Ich kann nur die Wahrheit darüber sagen, wie ich mich fühle. Aber nicht darüber, wie sich andere verhalten oder wie sie sein sollen.“

Doch wo die Grenzen der radikalen Ehrlichkeit gesetzt werden, definiert jeder anders. Manche sind nur im persönlichen Umfeld radikal ehrlich, andere auch in der Öffentlichkeit. Taber jedoch zieht eine klare Linie: „Wenn die Nazis klopfen und nach Anne Frank fragen – natürlich würde ich da lügen.“

„Lügen sind wie ein Käfig. Sie halten uns gefangen und sperren uns ein“

Die 37-jährige Berlinerin Aleksa

20 Minuten später als verabredet kommt auch Jura ins Café am Mehringdamm. Sie entschuldigt sich, nennt aber keinen Grund. Mit Bikini-Oberteil und einem flatternden Rock tanzt sie über den Gehweg und lässt sich lässig in den Stuhl fallen. „Auch eine kleine Apfelschorle bitte!“

Eigentlich sei sie schon immer ziemlich ehrlich gewesen, sagt Jura. Als die 26-Jährige von Radical Honesty hörte, war sie begeistert. „Wenn ich heute mit einer Person schlafen will und das Gefühl habe, sie kann mit der Offenheit umgehen, dann spreche ich das auch an – selbst wenn ich einen Freund hätte.“

Ihr Lebenswandel brachte einen Einschnitt mit sich. Nur zwei Freunde blieben ihr. „Es war ein einsames Jahr für mich“, sagt Jura. Viele konnten mit der ständigen Ehrlichkeit nicht umgehen. Es dauerte eine Weile, bis sich neue Beziehungen entwickelten.

Eine davon ist die Freundschaft zu Aleksa. Sie lernten sich vor anderthalb Jahren auf einem der Workshops kennen. „Jura hat mich ein bisschen auf diesen Weg gebracht“, sagt Aleksa. Die beiden lachen, recken freudestrahlend die Hände in die Luft und liegen sich in den Armen. Sie sind radikal ehrlich, sagen sie, und deshalb auch radikal glücklich und radikal frei.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen