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Der enttäuschte Traum vom gemeinsamen Haus Europa

Rückblick Vor 25 Jahren löste sich der „Warschauer Pakt“ auf. Der Kalte Krieg wurde formell beendet. Und heute? Heute ist die Lage zwischen Russland und dem Westen brenzliger denn je

Nato-Manöver im Juni 2016 in Polen mit britischen, polnischen und US-Fallschirmspringern Foto: T. Zmijewski/dpa

von Andreas Zumach

GENF taz | Heute vor einem Vierteljahrhundert endete der Kalte Krieg mit einem formalen Akt: Auf der Prager Burg unterzeichneten Vertreter von sechs Staaten am 1. Juli 1991 das „Protokoll zur Beendigung des Warschauer Vertrages über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“. Damit lösten die Sowjetunion, Ungarn, Polen, Bulgarien, Rumänien und die Tschechoslowakei die politische und militärische Allianz der „Warschauer Vertragsorganisation“ auf.

Das im westdeutschen Sprachgebrauch zumeist „Warschauer Pakt“ genannte Bündnis war im Mai 1955 gegründet worden – als Reaktion auf die Wiederbewaffnung der westdeutschen Bundesrepublik und ihren Nato-Beitritt. Ihr siebtes Gründungsmitglied, die DDR, jahrzehntelang der Frontstaat zur Nato, trat bereits Ende September 1990 aus, wenige Tage vor der Vereinigung mit der Bundesrepublik. Dass sich die östliche Militärallianz unblutig selbst auflöste, bestätigte viele Menschen in ihrer Hoffnung auf eine friedliche Zukunft. Bereits zuvor, auf der Pariser Gipfelkonferenz der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) im November 1990, hatten alle Mitglieder der Nato, des Warschauer Paktes und die zwölf blockunabhängigen Staaten Europas eine „Charta für ein neues Europa“ verabschiedet.

Der damalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow sprach von einem „gemeinsamen Haus Europa“. Russland sollte darin mit gleichen Rechten und Pflichten wohnen. Der institutionelle Rahmen wäre eine politisch und materiell gestärkte und zu einem kollektiven Sicherheitssystem weiterentwickelte KSZE.

Was aber geschah? Die 16 Mitgliedsstaaten der 1949 gegründeten Nato hielten daran fest, dass die westliche Militärallianz weiter bestehen und neue globale Aufgaben übernehmen müsse. Und das, obwohl der Warschauer Pakt aufgelöst war und die Sowjetunion alsbald in 15 neue Staaten zerfiel. Mit Ausnahme der Sowjetunion nahm die Nato in der Folge alle ehemaligen Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes sowie die drei baltischen Ex-Sowjetrepubliken auf. Zudem beschloss der Nato-Gipfel 2008 eine Aufnahme­option für die Ukraine, Georgien und Moldawien.

Im Jahr 2001 kündigten die USA das 1972 mit Moskau vereinbarte bilaterale Abkommen zum Verbot von Raketenabwehr­systemen. Seither betreiben sie mit mehr oder weniger engagierter Unterstützung anderer Nato-Staaten die Stationierung eines Abwehrsystems in Europa. Nach offizieller Washingtoner Lesart ist sie nur gegen iranische Raketen gerichtet, in Moskau aber löst sie erhebliche Sorgen aus.

Anfang 2014 annektierte Russland die ukrainische Krim und verstieß damit gegen die UNO-Charta, die KSZE-Akte und andere europäische Verträge. Seither betreibt sie eine hybride Kriegsführung, um die Aufständischen in der Ostukraine zu unterstützen.

Zuvor hatten die USA, aber auch europäische Staaten, in zumindest völkerrechtlich fragwürdiger Weise am Sturz des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch mitgewirkt. Seitdem führen Russland und die Nato in Grenznähe immer wieder militärischen Manöver zu Lande, in der Luft und im Wasser durch – und die Gefahr eines Zusammenstoßes wächst.

Die Mitglieder von Nato und EU haben inzwischen fast alle seit dem Ende des Kalten Krieges geschaffenen Gesprächs­foren zwischen dem Westen und Russland (etwa im Nato-Russland-Rat oder der Gruppe der acht wichtigsten Industriestaaten G 8) stillgelegt.

Dies ereignete sich keineswegs zwangsläufig und unausweichlich. In Washington und Bonn/Berlin, den Hauptstädten der beiden für die Beziehungen des Westens zu Russland relevantesten Staaten, gab es zumindest bis Mitte der 90er Jahre politische Kräfte, die eine andere Entwicklung befürworteten.

Grenznahe Manöver Russlands und der Nato verstärken die Gefahren

Chancen verpasst, Warnungen ignoriert

Bei ihren Besuchen in Moskau im Februar 1990 versprachen sowohl US-Außenminister James Baker als auch Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow nachweislich den Verzicht auf jegliche Ostausdehnung der Nato, im Gegenzug für Moskaus Zustimmung zur deutschen Vereinigung.

Genscher schlug vor, Gesamtdeutschland könne Mitglied der Nato sein, ohne deutsche (oder andere) Soldaten auf dem Territorium der ehemaligen DDR zu stationieren. Der SPD-Sicherheitspolitiker Egon Bahr ging sogar von einer Auflösung auch der Nato aus. Er präsentierte ein Modell für ein gesamteuropäisches kollektives Sicherheitssystem in den Strukturen der KSZE. Doch relevante CDU-Politiker wie der damalige Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg, seine Vorgänger und Nachfolger Manfred Wörner (damals Nato-Generalsekrär) und Volker Rühe sowie Wolfgang Schäuble verwarfen die Vorschläge von Genscher und Bahr. Sie verlangten die uneingeschränkte Einbindung des gesamtdeutschen Territoriums in die Nato.

Wörner forderte 1990 als erster westlicher Politiker öffentlich die Aufnahme ehemaliger Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes in die Nato. Diese Stimmen setzten sich schließlich durch.

In Washington hätte die damalige Regierung von Präsident George Bush senior nach Aussagen von Außenminister Baker mit dem Vorschlag Genschers „gut leben können“. Und gegen eine Aufnahme der osteuro­päischen Staaten in die Nato gab es bis in die ersten Jahre der Clinton-Regierung, und auch noch auf dem Nato-Gipfel vom Januar 1994, erhebliche Bedenken der USA – mit Rücksicht auf die „legitimen Sicherheitsinteressen“ Russlands, um die antiwestlichen Strömungen in Moskau nicht zu stärken und die Reformbemühungen von Präsident Boris Jelzin nicht zu gefährden.

Dessen Position und auch die Haltung der Clinton-Regierung wurden allerdings erheblich erschwert durch den Erfolg des russischen Ultranationalisten Wladimir Schirinowski bei den Parlamentswahlen im Dezember 1993. Schirinowskis Auftreten verstärkte in Polen und anderen osteuropäischen Staaten die Bedrohungsängste vor Russland und entsprechend deren Wunsch nach einer Aufnahme in die Nato.

Ein kollektives Sicherheitssystem im Rahmen der KSZE, das die Sicherheitsbedürfnisse der Osteuropäer hätte befriedigen können, existierte nicht, weil die Nato-Staaten die Absichtserklärungen des Pariser Gipfels vom November 1990 nicht umgesetzt hatten.

Öl ins Feuer

Am 8. und 9. Juli wollen die Staats- und Regierungschefs der 28 Nato-Mitglieder auf ihrem Gipfeltreffen in Warschau beschließen, rund 4.000 Nato-Soldaten permanent nach Polen und in die drei baltischen Staaten zu verlegen. Russlands Nato-Botschafter Alexander Gruschko erklärte am Donnerstag laut Interfax, seine Regierung erwäge die Verlegung von Iskander-Kurzstreckenraketen nach Kaliningrad.

Der Direktor der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, hält die Gefahr, dass aus „Eskalationsschritten militärische Kampfhandlungen“ werden, für größer als in der Spätphase des Kalten Krieges oder „in den vergangen 25 Jahren“, ja sogar für „größer denn je“. Mit Blick auf die geplanten Beschlüsse in Warschau forderte Ischinger, die Allianz solle „nicht draufsatteln, sondern mäßigen“. Dialog, Entspannung und die Rückkehr zur Rüstungskontrollen müssten ein „zweiter Pfeiler“ der Nato-Strategie sein, so Ischinger. Auch Harald Kujat, Bundeswehrgeneral a. D. und bis 2005 Vorsitzender des Nato-Militärausschusses, appelliert an das Bündnis, es müsse „Vertrauen wiederherstellen“ und „Misstrauen abbauen“. (azu)

Die US-amerikanische Rüstungsindustrie, die auf milliardenschwere Geschäfte bei der Ausrüstung der Armeen künftiger Mitgliedsstaaten mit Nato-kompatiblen Waffen hoffte, verstärkte die Lobby für eine Ost­erweiterung der Allianz.

1996 gab Clinton dem Druck nach, nicht zuletzt, weil die demokratischen Senatoren und Abgeordneten bei der Zwischenwahl im November 96 auf die Stimmen der osteuropastämmigen WählerInnen angewiesen waren.

Neben der bis 2002 vollzogenen Nato-Osterweiterung führten mehrere Entwicklungen dazu, dass sich das gegen­seitige Misstrauen immer weiter aufbaute: Dazu gehörten der Kosovokrieg der Nato 1999, der britisch-amerikanische Irakkrieg von 2003 sowie 2008 das militärische Eingreifen Russlands in die innergeorgischen Konflikte um die abtrünnigen Provinzen Südossetien und Abchasien.

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 kritisierte Präsident Wladimir Putin die amerikanische Politik scharf. Die meisten Nato-Regierungen nahmen seine Rede fahrlässigerweise nicht ernst.

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