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Archiv-Artikel

Abfahrt nach „Gänsebraten I“

REISEN 3 Millionen Fahrgäste nutzen jedes Jahr den Zentralen Omnibusbahnhof in Charlottenburg. Zum Weihnachtsfest wirkt der Ort besonders trist. Daran kann auch ein eilig beschmückter Baum nichts ändern

Der ZOB

■ Über den 1966 in Betrieb genommenen Zentralen Omnibusbahnhof an der Masurenallee wird seit Jahren diskutiert: Die Anlage gilt als sanierungsbedürftig und wenig kundenfreundlich: Service oder Gastronomie gibt es kaum.

■ Im Jahr 2008 scheiterte das Konzept für einen 50 Millionen Euro teuren Neubau: zu viel für die stadteigenen Verkehrsbetriebe, die den ZOB betreiben. Doch auch zu einer Sanierung konnte man sich bisher nicht durchringen – wohl auch, weil man noch nicht endgültig über einen zweiten Standort entschieden hat. Im Gespräch ist vor allem das Gelände der Tempelhofer Freiheit (Süd).

■ Gehandelt werden muss dennoch, denn der ZOB stößt an seine Kapazitätsgrenzen. Seit 2001 ist das Fahrgastaufkommen laut der Betreibergesellschaft IOB um 34 Prozent gestiegen. „Zur besseren Bedienung der mittelfristigen Nachfrage“ wolle man den ZOB in der Finanzplanung 2014/15 entsprechend berücksichtigen, geht aus einer Kleinen Anfrage eines CDU-Abgeordneten an die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt im November hervor.

■ Von der Liberalisierung des Fernverkehrs zum 1. Januar 2013 erwartet man sich ein deutlich höheres Verkehrsaufkommen am Busbahnhof. Bislang hatte die Deutsche Bahn ein Monopol auf Langstrecken. (taz)

VON ANNA KLÖPPER

Ein windschiefer Tannenbaum steht neben Busbahnsteig Nummer neun des Zentralen Omnibusbahnhofs am Funkturm. Irgendjemand hat ihn hastig mit blauen und weißen Weihnachtskugeln behängt. Aber die Reisenden, die hier an diesem nebligen Dezembermorgen ungefähr im Viertelstundentakt eintreffen, aus Paris und Dresden, aus Bosnien und aus Hannover, eilen ohnehin nur vorbei: in die schale Wärme der Wartehalle, in die Arme von Freunden bestenfalls, oder einfach zum Kaffeeautomaten an Bussteig eins.

Der ZOB ist ein ungemütlicher Ort, zugig und grau. Auf der einen Seite kämpfen sich Taxis und Busse durch den Schneematsch auf der Masurenallee, auf der anderen rauscht der Verkehr auf der Stadtautobahn am Kaiserdamm vorbei. Es gibt viel 60er-Jahre-Beton, die harten Plastikschalensitze in der Wartehalle leuchten ein bisschen zu kreischend orange inmitten all der Farblosigkeit. Menschen kommen und gehen, flüchtige Gesichter, die Schritte eilig. Kein Ort, an dem man unnötig viel Vorweihnachtszeit verbringen möchte. Und gleichzeitig beginnt die Weihnachtszeit für viele eben genau hier.

Eine Rentnergruppe aus Reinickendorf steht dicht beisammen vor dem Kiosk in der Wartehalle. Die Frauen tragen Dauerwelle und zu viel Parfum, die Männer Allwetterjacken und praktische Tagesrucksäcke. Man habe die Weihnachtsfahrt in den Fläming gebucht: „Erst Gans essen, und dann Bratapfelkuchen.“ Der Bus nach Diedersdorf wird aufgerufen, geschlossen marschiert der Tross los, die Handtaschen fest umklammert, die Blicke misstrauisch auf die Männer in den zerschlissenen Pullovern gerichtet, die sich am anderen Ende der kahlen Halle an den Heizkörpern wärmen; die nie in einen der Busse steigen und bloß mal zum Rauchen vor die Tür gehen, die Anoraks zu dünn für Mitte Dezember.

Der erste Joint des Tages

Die Lederjacke von Eric Felix ist eigentlich auch zu dünn, aber das ist ihm egal. Auch Weihnachten ist ihm ziemlich egal, so wie ihm eigentlich gerade alles ziemlich egal ist. Während die Rentnergruppe zum Weihnachtshappening aufbricht, sitzt er an Steig Nummer zehn und raucht entspannt den ersten Joint des Tages. Drei Tage war er in der Stadt unterwegs, geschlafen hat er nicht viel: Musik und Partys im Watergate, im Golden Gate, im KaterHolzig haben es ihm nicht erlaubt. Einmal im Monat kommt der Geschichtsstudent aus Kopenhagen mit dem Bus nach Berlin, immer allein, um zu feiern. „Ein bisschen unpersönlich“ findet er den Busbahnhof, obwohl – er zuckt die Schultern und zieht am Joint: „Nee, eigentlich ist es doch okay hier.“

Peter Ratzke wird Eric gleich in Richtung Heimat fahren. Ratzke ist Busfahrer, seit 27 Jahren schon. „Marseille, Nizza, Cannes und Rimini, wo die Abiturienten immer durchdrehen“, sagt er lachend. „Kenn ich alles.“ Im nächsten Moment spult er schon sämtliche Daten zum Checkpoint Charlie und zur Geschichte des taz-Gebäudes ab: „Stadtrundfahrten mache ich nämlich auch.“ Im Moment fährt er auf der Strecke Kopenhagen–Berlin: „Morgens los nach Rostock, zur Fähre. Nachmittags nehme ich dann den Schwung aus der Gegenrichtung mit zurück.“ Bis zum 23. Dezember muss er noch fahren, über Weihnachten hat er frei. Er klatscht in die Hände, Eric soll jetzt mal einsteigen.

Rund 70 Abfahrten gehen jeden Tag vom ZOB aus, ebenso viele Busse im Linienverkehr kommen an. Nachmittags und abends fahren Busse ins Baltikum, nach Russland, Serbien und in die Ukraine. Es gibt Linienverkehr nach Paris, Warschau, London, Kopenhagen und Prag. Die innerdeutschen Städte – darunter Dresden, München, Kiel und Hannover – bedient vor allem das Unternehmen Berlin Linien Bus. Hinzu kommt noch der sogenannte Gelegenheitsverkehr: etwa jetzt in der Adventszeit zum Weihnachtsmarkt nach Quedlinburg oder zum „Wintermärchen“ in die Sächsische Schweiz. Eine Fahrt heißt schlicht „Gänsebraten I“, das Ziel ist wohl geheim.

Besonders die Linien in Richtung Osteuropa seien stark frequentiert, sagt Simona Jennert, die sich als selbstständiges Reisebürounternehmen in Schalter Nummer sieben eingemietet hat. Ihr Schalter ist gerade als einziger der acht Ticketschalter in der Wartehalle geöffnet. Das Geschäft am ZOB laufe „ganz okay“ – allerdings reiht sich nun auch nicht gerade eine Warteschlange vor Jennerts Box. Irgendwann schließt Schalter sieben, und Schalter fünf macht auf: ein anderes Reisebüro. Das Absperrband, das die Kundschaft in Reih und Glied halten soll, ist auch hier überflüssig.

Immerhin rund 3 Millionen Menschen pro Jahr, das sind mehr als 8.000 am Tag, sollen laut der Internationalen Omnibusbahnhof-Betreibergesellschaft IOB – einem Tochterunternehmen der BVG – den Busbahnhof nutzen. Die insgesamt 35 Bussteige, „Gates“ heißen sie auf den Anzeigetafeln in der Wartehalle, wirken an diesem Vormittag wie leer gefegt. Selten halten mehr als drei Reisebusse gleichzeitig, voll besetzt ist fast keiner. Die Leere des ZOB lässt ihn gleichzeitig riesig und ziemlich provinziell wirken.

Ungläubig schaut sich Milijana Mendeš um: „So ein kleiner Busbahnhof, so eine große Stadt!“ Einen ganzen Tag und eine Nacht war sie unterwegs nach Berlin, aus Tuzla in Bosnien-Herzegowina. Ihr Sohn studiert hier an der Universität der Künste. Jetzt liegt er allerdings im Krankenhaus, vor drei Stunden war die OP: „Lungenkollaps“, erklärt der Mitbewohner des Sohnes, der die Frau an Bussteig 22 erwartet. Es ist nicht ganz sicher, ob Milijana Mendeš ihn verstanden hat, jedenfalls will sie Weihnachten wieder zurück in Bosnien sein: Zu Hause, sagt sie, warte ihr Mann auf sie.

Tanne über den Würstchen

Manche werden erwartet, auf manche wartet niemand – das ist das Gnadenlose an einem Busbahnhof, besonders in der Weihnachtszeit. Philipp White ist 20, „Viertelamerikaner“, wie er sagt, und kommt gerade aus Paris. Dort hat er einen Job gesucht, „irgendwas im Hotel“, leider vergeblich. Er sieht müde aus: Billige Hostels und kostenlose Sofas beim Couch Surfing – das war anstrengend mit der Zeit. Jetzt will er erst mal in Berlin bleiben, er kenne da ein paar Leute in Kreuzberg. Zu Weihnachten will er weiter, Freunde in Hamburg besuchen. Auf ihn wartet keiner.

Aus dem Kioskradio in der Wartehalle dudelt derweil leise eine Version von „White Christmas“. Über der Theke mit den Croissants und Würstchen im Schlafrock hat jemand einen Kranz aus Tannengrün mit vier roten Kerzen platziert. Ein bisschen Weihnachten für alle.