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„Integration gibt es irgendwie nicht“

Flüchtlingshilfe Karin Grafe engagiert sich bei Help a Refugee. Dort hat sie viel über uns gelernt

von Gabriele Goettle

Karin Grafe, grad. Informatikerin u. Landschaftsplanerin. Aufgewachsen in Wiesenbrück/Westf., wo sie auch ihren Mann kennenlernte. Abitur in Münster. Sie wollte Mathematik studieren, was aber durch d. Tod d. Vaters vereitelt wurde. Sie lernte stattdessen 1970 im Deutschen Rechenzentrum Darmstadt Programmiererin, was ursprünglich „mathematisch-technische Assistentin“ hieß. Danach Arbeit als Programmiererin in Berlin. Leben in der Wohngemeinschaft. 1974 Geburt d. Tochter. 1976 kauft d. WG einen großen Vierkanthof in Niedersachsen. Gemeinsame Sanierung in Eigenarbeit. 1979 Einzug zu siebt, darunter drei Architekten u. eine Lehrerin. Karin fand Arbeit als Programmiererin bei einer nahe gelegenen Baufirma. Ihr Mann hat bald nach d. Einzug einen schweren Motorradunfall u. ist seitdem querschnittgelähmt. Später machte er, trotz Rollstuhl u. Behinderung, ein Jura-Studium in Bremen. Auch Karin Grafe absolvierte noch mal ein Studium, von 1991 bis 1998 studierte sie in Hannover Landschaftsplanung u. arbeitete hernach bis zur Berentung als Selbstständige im zweiten Beruf. 2005 beschließt d. Mehrheit der WG, aus Altersgründen nach Bremen zurückzukehren. Sie finden ein geeignetes Haus. Nach aufwendiger Modernisierung u. d. Schaffung von sieben Wohneinheiten für insgesamt 12 Personen ziehen sie ein. Zusammen mit einigen Neuen. 2009 wird d. Vierkanthof verkauft. Die Gemeinsamkeiten d. Hausgemeinschaft, die nun keine Gemeinschaftswaschküche usw. mehr hat, bestehen im Wesentlichen aus einem offenes Frühstück an den Sonntagen, aus Absprachen über Hausangelegenheiten u. einer gemeinsamen Reise pro Jahr. Karin suchte im Ruhestand nach einer sinnvollen Beschäftigung u. beschloss, sich d. Hilfe für Flüchtlinge zu widmen. Karin wurde 1951 in Wiesenbrück/Westf. geboren, ihre Mutter war Schneiderin, d. Vater Bauingenieur. Sie ist verheiratet und hat eine Tochter.

Karin Grafe holt mich am Bahnhof ab mit dem Auto. Wir fahren durch eine sympathisch wirkende Stadt, vorbei an den typischen Altbremer Reihenhäusern aus dem 19. und 20 Jahrhundert, mit ihren schönen Fassaden in verschiedenen Farbtönen. Alles ist kleiner, enger und lebenslustiger als in Berlin. Sie wohnt etwas außerhalb, in der östlichen Vorstadt. Das Haus hat einen bepflanzten Innenhof mit Sitzplatz und ein großes Garagengebäude. Es ist außen und innen bis zur Sterilität modernisiert. Die Wohnung jedoch ist gemütlich, hell und geschickt zugeschnitten auch auf die Bedürfnisse eines Rollstuhlfahrers.

Sie hat ein kleines Frühstück und Tee vorbereitet. Durch die offene Balkontür kann man hinuntersehen auf die Straße und auf einen kleinen Platz. Ich bitte sie, uns zu erzählen, wie sie zur Flüchtlingshilfe kam und was sie für Erfahrungen macht.

„Es war ja die Situation, dass man täglich hörte, wie viele Flüchtlinge herumirren und nach Deutschland kommen, auch nach Bremen kommen, und dass Hilfe gebraucht wird von der Zivilgesellschaft. Ich dachte, da möchte ich mich einbringen. Aber ich wollte nicht Kleiderkammer oder so was machen, und da gab mir ein Nachbar den Tipp, ich soll doch mal zu dem Verein Help a Refugee gehen. Das ist ein gemeinnütziger Verein und ist – ganz wichtig – Anfang 2015 von einer Deutschen und einem Syrer gegründet worden. Er ist gewachsen im Laufe der Zeit, es gibt immer noch, wie zu Beginn, am Mittwochnachmittag ‚Meet a local‘, Begegnung zwischen Deutschen und Flüchtlingen, man spricht über Probleme, erfährt, wobei man helfen kann, und man lernt sich kennen. Sie glauben gar nicht, was da immer los ist. Die Räume übrigens stellt uns eine katholische Gemeinde kostenlos zur Verfügung. Es ist immer brechend voll. Leider zu 99 Prozent mit Männern. Inzwischen haben wir aber Veranstaltungen, zu denen nur Frauen kommen dürfen, ‚Ladies Circle‘, der ist sehr beliebt. Als ich das erste Mal einfach hin ging zu einer Vereinssitzung, da wurde ich sehr freundlich empfangen. In großer Runde saß man zusammen, jeder hat ein bisschen was erzählt. Das war total interessant, aber nach der Sitzung saß ich da und habe mich gefragt, ja, was mache ich denn jetzt? Und der Mann neben mir sagte: ‚Hier, ich habe was für dich.‘ Er gab mir einen Bogen, da konnten die Flüchtlinge sich dazu äußern, weshalb sie da sind und über die Gründe ihrer Flucht.

Mein erster Flüchtling

Mein ‚erster Flüchtling‘ war ein junger Mann, der aus dem Heim raus wollte in eine Wohnung. Ich bin ins Heim gefahren – habe da zum ersten Mal so ein Heim gesehen – habe ihn kennengelernt, und wir verstanden uns auf Anhieb. Wir haben heute noch einen tollen Kontakt. Er ist Syrer, 23, alleine hier. Wir haben stante pede eine Wohnung für ihn gefunden, in der er auch immer noch lebt. Dann habe ich die Behördengänge und bürokratischen Sachen mit ihm gemeinsam gemacht. Bin mit zum Sozialamt gegangen usw. Das war alles sehr schwierig, denn er war in so einem Übergang vom Sozialamt zum Jobcenter, beide waren zuständig, aber ein Amt schob es aufs andere. Wir mussten also x-mal hin und her, immer fehlten Unterlagen, Ooch! Da war ich irgendwann so weit, dass ich gebebt habe vor Wut – Sie merken, ich stocke noch jetzt –, er wurde ständig aufs jeweils andere Amt verwiesen. Die reden gar nicht miteinander! Das war meine erste Behördenerfahrung. Ich war noch nie beim Sozialamt, noch nie beim Jobcenter. Und ich war geschockt. Also wir sind richtig morgens hin, Marke ziehen, stundenlanges Warten in langen Schlangen. Manchmal ist man auch gar nicht vorgelassen worden, zum Beispiel in diesem Sozial-Centrum – so heißt das in Bremen. Wir mussten aber von denen dringend ein Schreiben haben, damit das Jobcenter aktiv wird. Man gab uns die Auskunft, das Schreiben sei in der Post. Gut. Wir warteten, aber der Vermieter, eine Wohnungsbaugesellschaft, wollte nicht mehr warten. Es war Eile geboten, sonst würde vielleicht die Wohnung anderweitig vergeben. Deshalb brauchten wir dringend dieses Schreiben zur Übernahme der Mietkosten. Die Zeit lief ab und man hat uns dauernd nur vertröstet. Es kam aber nichts mit der Post. Wir sind also wieder hin. Alles überfüllt, langsames Vorrücken in der Schlange bis zu einem kleinen Counter, da saß ein Beamter, der hörte sich das Begehr an. Wie bei Kafka! Ich versuchte ihm die Lage zu erklären, sagte, es kam kein Schreiben mit der Post. Er wollte uns wegschicken, wir sollten eben abwarten, bis es kommt. Da wurde ich dann – ganz gegen meine Art – doch etwas ungehalten und bin zum ersten Mal in meinem Leben wirklich richtig standhaft geblieben vor diesem Menschen. Ich sagte: ‚Ich gehe hier nicht weg ohne dieses Schreiben! Wenn es abgeschickt wurde, dann gibt es ja eine Kopie und ich möchte jetzt eine Kopie dieser Kopie, sonst ist die Wohnung weg!‘ Und tatsächlich, ein Wunder geschah, der Mann erhob sich, verschwand im langen Flur und kam nach einer Weile zurück mit dem kopierten ­Schreiben. Und das Witzige war, er gab mir sogar die Hand. Ich bin noch ein paar Mal da gewesen, er war immer sehr freundlich. Jedenfalls bekamen wir die Wohnung.

Der junge Mann ist mir verbunden geblieben. Wenn es Probleme gibt, dann helfe ich. Und dann war schnell klar, er wollte studieren. Und für das Studium braucht er einen C1-Level, und das Jobcenter zahlt aber nur B1, das ist der sogenannte Integrationskurs, um Leute in Arbeit vermitteln zu können. Danach ist normalerweise Schluss. Er kriegte das nicht bezahlt, einen Sprachkurs für sein Studium. Leute mit weitergehenden Bildungsinteressen werden unverständlicherweise kaum ge­fördert. Aber wir haben dann doch Unterstützung gefunden durch die Otto ­Be­­necke Stiftung.“ (Seit 50 Jahren ermöglichen die Garantie­fondszuwendungen des Bundes der Stiftung, akademisch orientierten Zuwanderern – früher waren das DDR-Flüchtlinge und Spätaussiedler – bei der Aufnahme eines Studiums finanziell zu helfen. Anm. G. G.)„Die haben ihm dann die Intensivkurse B2 und C1 finanziert. Und momentan sind wir gerade wieder intensiv miteinander in Kontakt, weil die Uni Bremen ein Programm beschlossen hat, bei dem 90 Flüchtlinge aufgenommen werden. Daran soll er teilnehmen.

Sieben auf kleinstem Raum

Ich wollte Ihnen auch noch von einer Familie erzählen: Eines Tages, an einem Mittwoch, war ein junger Syrer mit seinem Vater im Verein. Er erzählte, dass seine Familie am Vortag angereist sei, und er bat uns, ihnen eine Wohnung zu suchen. So lange würden sie bei ihm wohnen. Es stellte sich heraus, dass dann sieben Personen auf kleinstem Raum leben müssten, was ja nun wirklich nicht geht. Ich bin am nächsten Tag mit ihm und der ganzen Familie zum BAMF.“ (Bundesamt f. Migration u. Flüchtlinge, Anm. G. G.)

„Er wurde ständig von dem einem aufs jeweils andere Amt verwiesen. Die reden gar nicht miteinander!“

„Also das war ein schockierendes Erlebnis. Chaos, alles völlig überfüllt, die Menschen haben stundenlang warten müssen, ohne Stühle, ohne Getränke, ohne alles! Ich war so fertig, ich hab mich einfach auf den Fußboden gesetzt. Es war mir peinlich, denn was ist das Warten gegen die Flucht zu Fuß über so weite Strecken, bei Hitze und Kälte, so wie diese Familie? Sie waren lange unterwegs, mit einem kranken Kind. Kommen aus einer Kleinstadt nahe Aleppo. Ihr jüngster Sohn erlitt eine schwere Kopfverletzung, als er von einem nicht mehr vorhandenen Balkon gefallen war. Seit dem hatte er epileptische Anfälle und war auf seine Medizin angewiesen. Die war der Familie ausgegangen und sie brauchten das Medikament ganz dringend. Wir haben vor diesem Arztzimmer gewartet, zusammen 8 Personen. Vor der Tür dieses Arztzimmers war eine Traube junger Männer und immer wenn die Tür aufging, wollten sie außerhalb der Reihenfolge alle miteinander hinein. Das war dann die zweite Situation, wo ich dachte, ich muss mich jetzt hier durchsetzen! Als dann wieder die Tür aufging, habe ich laut gesagt: ‚So, jetzt ich!‘, habe mich durchgedrängt und habe der Ärztin zugerufen: ‚Wir haben hier ein krankes Kind, wir können nicht länger warten!‘ Es hat dann auch geklappt. Die sehr nette Ärztin hat den Ernst der Lage erkannt, eine Überweisung ausgeschrieben zu einer Arztpraxis, wo wir die Medizin bekommen würden. Sie selbst konnte keine Medikamente ausgeben. Wir waren dann in einer tollen Kinderarztpraxis, wo alles ganz unbürokratisch ablief. Sie waren ja ganz frisch da, hatten keinen Krankenschein, nichts. Der Arzt hat das Kind gleich für die kommende Woche zur Untersuchung bestellt und sich ums Bezahlen erst mal gar nicht gekümmert. Das fand ich so toll! Dann fuhren wir zusammen zu dem Übergangswohnheim, in das die Familie eingewiesen worden war vom Bundesamt. Als ich das gesehen habe, hab ich erst mal geheult. Das ist eine Fabrikhalle am Stadtrand von Bremen. Es wurden provisorisch so halbhohe abgeteilte Bereiche geschaffen, als Sichtschutz. Oben war alles frei. Da ist ein permanenter Lärmpegel, die Kinder in ihrem Bewegungsdrang fuhren vor den ‚Wohnzellen‘ Rollschuh, spielten Fußball. Der kleine Junge hat auf diesen Lärm ganz erschrocken reagiert, was dann ja epileptische Anfälle auslöst. Aber sie mussten erst mal bleiben. Die Familie ist dann zum Glück nach Zeven verlegt worden, das ist 40 Kilometer von Bremen entfernt, eine Jugendherberge mitten im Wald, die man für Flüchtlinge bereitgestellt hat. Wir haben weiterhin versucht, eine Wohnung zu finden, damit die Familie wieder nach Bremen kann. Und tatsächlich fanden wir eine, angeboten von einem Kinderheim, die diese Wohnung mal als Gästewohnung benutzt hatte. Sie haben die Miete so angepasst, dass sie übernommen wurde vom Amt. Dort leben sie nun zu sechst, die Kinder, 7, 13, 18, 22, und die Eltern. Und im Zusammenhang mit dieser Familie ist übrigens Jutta mit eingestiegen – WG-Mitbewohnerin der ersten Stunde und Lehrerin –, sie beschloss, Deutschunterricht zu geben. Das fand ich unheimlich toll!

Es gibt Höhen und Tiefen bei dieser Arbeit. Ich hatte ein ruhiges und geordnetes Leben und bin plötzlich mit Schicksalen konfrontiert worden, die mich stark beschäftigen. Ich musste manchmal feststellen, dass ich eigentlich gar nicht darauf vorbereitet war, auf den Umgang mit solchen traumatisierten Menschen. Manchmal denke ich, ich stoße an meine Grenzen. Wenn der Kontakt enger und intensiver wird, dann höre ich – besonders von den jungen Männern – immer wieder: Sie sind wie eine Mutter für mich. Man wird zum Rettungsanker. Aber irgendwie kann ich diese hohen Erwartungen gar nicht erfüllen. Mir fehlt alles dazu … Ja, vielleicht auch der Wille! Es gibt ja Menschen, die professionell mit traumatisierten Menschen zu tun haben, die gelernt haben, das zu trennen. Nach Hause zu gehen und trotzdem das Leben zu leben. Und nicht abends im Bett zu liegen und an nichts anderes mehr denken zu können als an dieses Drama. Ich kann das ‚Abschalten‘ einfach nicht. Aber ich realisiere, dass ich – im Gegensatz zu ihnen – jederzeit zurückgehen kann in mein sicheres Leben, in meinen Luxus, in mein eigenes Bett. Abgesehen davon, habe ich auch keine finanziellen Probleme, habe eine wohlbehütete Familie. Das so deutlich zu spüren, ist auch ein Ergebnis dieser Erfahrungen. Eigentlich ist das, was ich tun kann und tue, nur eine kleine Hilfe, ein Behilflichsein dabei, die Hürden im Behördendschungel etwas leichter zu überwinden. Das wollte ich nur mal nebenbei erwähnen.

Doch nicht Araber?

Wieder zum Verein: Weil wir im Verein immer mehr Mitglieder und Flüchtlinge wurden, beschlossen wir, Arbeitsgruppen zu bilden, arbeitsteilig zu arbeiten. Ich war von vornherein in der Arbeitsgruppe ‚Wohnungsvermittlung‘, wir waren anfangs nur Frauen, es war ein sehr freundschaftliches und solidarisches Klima. Und man stieß natürlich bei der Wohnungssuche auf die üblichen Vorurteile auch bei den Vermietern: ‚Äh, sind die etwa dunkel? Doch nicht Araber? Dann nicht.‘ Bis hin zu Sätzen wie: ‚Ich will nur anständige Leute im Haus haben!‘ Aber einige private Vermieter gab es, die vermieteten auch an Flüchtlinge. Ich habe eigentlich schöne Erfolge gehabt, bis zum Herbst des letzten Jahres. Dann wurde es immer schwieriger und schwieriger, weil die kleinen und preiswerten Wohnungen alle weg waren. Der Markt war leer! Und die Wohnungsbaugesellschaften, die haben irgendwann gesagt, sie vermieten nicht mehr direkt an Flüchtlinge, sondern geben nur noch Kontingente an die Übergangswohnheime. Es hatte Unmut gegeben, weil viele Deutsche gesagt haben, auch sie suchen eine bezahlbare Wohnung! Die Konkurrenten um diese Wohnungen liegen ja alle – sagen wir mal – so im Hartz-IV- Bereich. Andere müssen sich damit ja gar nicht auseinandersetzen. Dieser Markt ist sehr begrenzt. Mit dem totalen Mangel an Wohnungen entfiel unsere Aufgabe. Es kamen auch weniger Flüchtlinge. Voriges Jahr gab es noch eine richtige Flüchtlingseuphorie, aber die ist ziemlich geschwunden. Die Politik hat dafür gesorgt, dass die Flüchtlingsströme zu uns abgewürgt wurden, gruseligerweise. Das ist das ganz große Versagen von Europa.

Wir haben am 16. Februar unsere Arbeitsgruppe aufgelöst und uns was anderes überlegt. Das steckt noch in den Anfängen und soll ‚Ausbildung und Berufsfindung‘ sein. Man muss sich klar machen, dass die Situation der Flüchtlinge, die noch nicht anerkannt sind, ausgesprochen belastend ist. Eine der Familien beispielsweise, sie ist im Dezember vorigen Jahres gekommen, hatte einen Termin beim Bundesamt. Was noch lange nicht heißt, dass sie nun ihre Papieren haben, erst müssen noch Fingerabdrücke genommen werden und alles Mögliche. Und immer dazwischen lange Wartezeiten, in denen nichts passiert. Sie bekommen Geld für ihren Lebensunterhalt, haben eine AOK-Karte. Gut, das Leben kann stattfinden, aber was immer so mit dem Stichwort ‚Integration‘ propagiert wird, das gibt es irgendwie gar nicht! Der Staat lässt zum Beispiel die Schulpflicht erst greifen, wenn die Papiere da sind, und das kann dauern. Diese Familie, die war fast fünf Jahre unterwegs, sie haben schlimme Kriegserfahrungen und eine richtig harte Flucht hinter sich. Die Fluchtzeit fehlt den Kindern in ihrer Schulbiografie, die älteren haben keinen Abschluss, kein Garnichts. Jutta, die Lehrerin, ist jetzt sehr aktiv geworden, hat es geschafft, einen Schulplatz zu bekommen für die Kinder. Normalerweise würden die zu Hause sitzen. Vorgestern waren Jutta und ich bei der Familie, die Mutter klagt über starke Rückenschmerzen. Sie hat mir vorgemacht, wie sie ihr Kind die ganze Zeit getragen hat auf dem Landweg. Nun muss sie unbedingt zum Arzt. Das ist die nächste Aktion. Und der Vater ist auch nicht gesund, hat Blutdruckprobleme, beide Eltern sind um die fünfzig. Wir haben jetzt auch einen Antrag auf einen Integrationskurs für die Eltern gestellt. Sie haben inzwischen wenigstens vom Bundesamt die sogenannte Aufenthaltsgestattung, das ist ein Papierausweis mit Passfoto, der gilt aber immer nur für drei Monate. Letztens hat das mal eine Frau in der Arbeitsagentur auf den Punkt gebracht, sie sagte: ‚Plastik alles gut! Papier noch nicht alles gut!‘ Wir hoffen, dass es dann spätestens nach den Sommerferien losgeht für die Eltern.

Die Menschen, die ich kennengelernt habe, haben alle Schlimmes, sehr Schlimmes hinter sich. Die wären alle liebend gerne zu Hause geblieben, wenn der Krieg und die Zerstörungen sie nicht vertrieben hätten aus ihrer Heimat. Viele kommen aus einem ehemals sehr behüteten Leben, gerade bei den Syrern. Dennoch nehmen sie alle Strapazen auf sich. Da sind Leute mit dem Schiff nach Lampedusa gefahren. Die ersten, die ich kennenlernte, sind alle noch auf diesem Weg gekommen. Es gab welche, die wurden dreimal zurückgeschickt und haben sich immer wieder auf den Weg gemacht, mit dreifachem Risiko und es wurde dreimal so teuer. Insofern gehe ich übrigens davon aus, dass die ärmeren Syrer alle noch dort sind in den zerstörten Städten oder in den riesigen Wüsten-Zeltlagern in Jordanien. Alle, die hier sind, müssen irgendwie ein bisschen Vermögen haben, das vielleicht von der gesamten Verwandtschaft aufgebracht wurde. Ich weiß es nicht. Jedenfalls ist bei den Flüchtlingen ihr gesamtes Leben durcheinandergekommen, ihre Familien sind zerrissen und ihre Zukunft ist ungewiss. Bei einigen geht es aber aufwärts. Ich habe unlängst einen total netten Mann wiedergetroffen, er sagte, ich kriege jetzt einen weiterführenden Deutschkurs und ab morgen arbeite ich als Briefträger! Er muss früh aufstehen, aber er war ganz glücklich. Ab September macht er den weiterführenden Deutschkurs, denn er war Lehrer und möchte gerne wieder als Lehrer arbeiten. Der Mann hat zwei Schwestern und einen Bruder, eine Schwester ist in Ägypten gelandet, die andere in der Türkei und der Bruder ist im Libanon. Oft ist die ganze Familie so verstreut.

Es ist überall von Integration die Rede. Aber was meinen wir eigentlich mit Integration? Gut, Sprache lernen ist notwendig, und die Männer, die ja arabische Prinzen sind in ihrem Selbstverständnis, müssen ihr Frauenbild, das sie von klein auf mit sich herumtragen, rigoros ändern. Wir Frauen haben hier mühsam gekämpft dafür, dass wir da sind, wo wir sind. Um keinen Preis der Welt möchten wir wieder zurück. Das ist für mich die absolute Deadline! Ich erzählte Ihnen eben von dem jungen Mann, der als Briefträger arbeitet. Es ging auch darum, dass seine Frau einen Integrationskurs machen soll, und er sagte ganz entsetzt: ‚Nein, das geht nicht! Sie kann nicht alleine durch die Stadt fahren, das ist unmöglich!‘ Dagegen ist erst mal schwer anzukommen und zu argumentieren. Die Frage ist aber auch, wie sehen wir uns gegenseitig? Manchmal, wenn ich an schönen, sonnigen Tagen hier so durchs Viertel spaziere, alle leicht bekleidet, dann versuche ich das mal mit den Augen eines orientalischen Mannes zu sehen … Manchmal, wenn ich ein T-Shirt anhabe, ertappe ich mich dabei, wie ich im Spiegel schaue, ob man vielleicht die Brustwarzen sieht. Dann zieh ich noch was drüber. Ist das jetzt Respekt vor der anderen Kultur oder bereits ein Zurückweichen in die alten Muster? Wie auch immer, es ist meine Entscheidung. Jede Frau muss sich aber unbedingt selbst frei entscheiden können!

„Die Menschen, die ich kennengelernt habe, haben Schlimmes, sehr Schlimmes hinter sich. Die wären alle liebend gerne zu Hause geblieben“

Briefe vom Amt

Zur Integration würde auch sehr beitragen, wenn die Bürokratie sich mal Gedanken macht. Ich muss oft helfen, wenn irgendwelche unverständlichen Briefe ankommen vom Amt – oft sind die sogar für mich unverständlich. Das ist doch ein Unding, dass selbst die eigene Bevölkerung mit dem Ämterbürokratismus und den Formularen nicht klarkommt. Wenn man drei Seiten gelesen hat, dann denkt man: Ja, worum geht es hier denn eigentlich? Also noch mal von vorne, ganz langsam! Das kann ein Antrag sein zur ‚Beihilfe nach dem Asylbewerberleistungsgesetz‘, oder ein Formular der Gebühreneinzugszentrale. Man fragt sich erst mal, wozu sollen die das überhaupt alles ausfüllen? Sie werden ohnehin befreit von den Gebühren, sollen aber einen vierseitigen Befreiungsantrag stellen! Ohne Deutschkenntnisse! Und ich muss ihnen die Notwendigkeit und den Sinn der Mülltrennung erklären. Man sagt: ‚Box for paper, box for plastic, box for metal, box for glass, and here, the rest.‘ Die Reaktion ist meist ein vollkommen leerer Blick. Dabei ist besonders wichtig, dass sie auch das mit dem Restmüll verstehen, denn der ist richtig teuer. Es gibt inzwischen hier in Bremen, in einer großen Siedlung – in der vor allem Sozialwohnungen sind – solche Chips für die Bewohner. Nur damit können sie die Mülltonnen öffnen und dabei wird elektronisch registriert, wie viele Tüten man reinwirft. Man darf genau 60 Tüten im Jahr einwerfen, egal, wie groß die sind! Ab dem 61. Mal gibt es dann eine extra Rechnung. Das ist schwer zu erklären, dass sie, wenn sie immer kleine Tüten einwerfen, null Komma nix ihr Kontingent erschöpft haben und dann mehr bezahlen müssen.

Ich mache das übrigens nicht zum ersten Mal, ‚Flüchtlingshilfe‘. Wir, unsere Land-WG, hatten damals Anfang der 90er Jahre, als der Jugoslawienkrieg tobte, eine bosnische Frau mit zwei Kindern aufgenommen, elf Monate und zweieinhalb Jahre alt. Deutschland hatte sein Kontingent von 5.000 Flüchtlingen bereits erfüllt und nahm keine Flüchtlinge mehr auf. Wir mussten für sie privat einstehen, mussten eine Erklärung unterschreiben, dass wir für alle Kosten aufkommen! Wir haben uns entschlossen und blitzartig unser Backhaus umgebaut, damit sie ihr eigenes Reich haben. Die Verständigung lief zuerst mühsam über etwas Französisch, wurde aber zunehmend besser. Das ältere Kind hat anfangs nie den Mund aufgemacht, konnte aber plötzlich deutsche Worte. Die Kinder waren dann in der Kindergruppe und der Dorfschule. Sie waren fast vier Jahre bei uns. Der Ehemann war in Sarajevo zurückgeblieben, leitete ein Elektrizitätswerk. Als der Krieg zu Ende war, ist die Mutter 1995 mit ihren Kindern rasch zurückgekehrt – was vonseiten der Politik ja so gewollt war. 1996 waren wir dort zu Besuch. Sarajevo war eine zerstörte Stadt, in den Brücken waren so große Löcher drin, da hätte Franz mit seinem ganzen Rollstuhl leicht hindurch gepasst. Gruselig! Und es war eine Stadt, in der es kaum intakte Wohnungen gab, keine Arbeit, kein Rentensystem, keine funktionierende Krankenversicherung. Nichts war mehr übrig, von dem guten Miteinander, das es einstmals in Sarajevo gegeben hatte. Leider hat sich dann auch noch herausgestellt, dass der Mann inzwischen eine andere Frau hatte und mit ihr ein Kind. Unsere bosnische Freundin hat sich scheiden lassen, wurde krank, sehr krank, bekam auch noch einen Schlaganfall und wurde dadurch noch mal total aus ihrem Leben gerissen. Wir haben bis heute immer noch Kontakt.

Das sind so meine Erfahrungen. Ich habe viel gelernt, auch über uns!“

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