Idol Der Pianist Karlrobert Kreiten wurde von den Nazis getötet. Ein Verehrer holt nun seine Auftritte nach: Das ungespielte Konzert
von Carolin Pirich
Florian Heinisch setzt behutsame Schritte, als könnten sie jemanden aufschrecken. Dabei steht niemand außer uns an diesem Vormittag auf dem Innenhof der Gedenkstätte Berlin-Plötzensee. Der Platz ist karg, die Mauer um ihn herum so rau, dass man sich die Haut aufschrammte, striche man an ihr entlang. Draußen stehen ein paar Bäume, sie geben an mit ihrem Grün, demonstrieren ihr Ich-war-ich-bin-ich-werde.
„7. August 1943
Man verliert jedes Zeitgefühl, und tausend Tage könnten für einen gelten. Leider ist hier jeder Tag für mich unwiederbringlich verloren. Aber ich bin jung und glaube, aus diesen harten Monaten viel, ja sogar sehr viel für mein späteres Fortkommen gelernt zu haben.“ Karlrobert Kreiten, Brief an Eltern und Schwester
Klamm ist es im ehemaligen Hinrichtungsschuppen. Die Hände werden kalt. Florian Heinisch schiebt sie in die Manteltaschen. Trotz der Frühlingswärme draußen trägt er einen, lang und dunkel. Unter den Fleischerhaken liegen trockene Kränze, hinter Glas kleben die Todesurteile ehemaliger Insassen. Lieselotte Hermann, Herrmann Stöhr, Erich Deibel. Karlrobert Kreiten. 186 Ermordete allein in der Nacht vom 7. auf den 8. September 1943. Eine der „Blutnächte von Plötzensee“.
Der Pianist Florian Heinisch will ein Konzert nachholen, das der Pianist Karlrobert Kreiten nicht mehr geben konnte. Deshalb ist er an den Ort gekommen, an dem Kreiten ermordet wurde. Kreiten war 27 Jahre alt, als er in seiner Zelle auf sein Urteil wartete, nur zwei Jahre älter als Heinisch. Er glaubte fest an seine Begnadigung. Im Urteil schreibt Roland Freisler, der Präsident des Volksgerichtshofs, von „Wehrkraftzersetzung“.
„So sagte er, der Führer sei krank und einem solchen ,Wahnsinnigen' sei nun das deutsche Volk ausgeliefert!!! … In zwei bis drei Jahren werde Revolution sein, und dann der Führer, Göring, Goebbels und Frick einen Kopf kürzer gemacht.“ Aus dem Urteil vom 3. Sepember 1943
Karlrobert Kreiten räumt ein, dass er das oder Ähnliches gesagt habe, als er in Berlin eine neue Wohnung bezog und vorübergehend auf dem Flügel der Jugendfreundin seiner Mutter üben durfte. Die war so erzürnt, dass sie den Sohn ihrer Freundin bei der Gestapo denunzierte. Als keine Reaktion folgte, ging sie ein zweites Mal hin. Und noch einmal.
„Nein, was er getan hat, ist ein schmutziger Angriff auf die Gläubigkeit einer deutschen Volksgenossin. Wer so wie Kreiten handelt, macht sich zum Handlanger unserer Feinde, in ihrem Nervenkrieg gegen die Haltung unseres Volkes.“ Aus dem Urteil
Es dauert einen Moment, bis Florian Heinischs Stimme wieder fest ist. „Das ist alles Unfug, wenn man das durchliest“, sagt er. „Das kann man doch nicht ernsthaft geglaubt haben, dass das nach Stalingrad noch wird!“ Die Mutter fleht, die Schwester, der Dirigent Wilhelm Furtwängler setzt sich für Karlrobert Kreiten ein, aber da ist das Urteil schon vollstreckt.
47 Jahre war Karlrobert Kreiten begraben, als Florian Heinisch 1990 in Eisenach geboren wurde. Wie Kreiten stammt auch Heinisch aus einer musikalischen Familie. Bei beiden sieht man früh Talent. Beide treten bei Wettbewerben an, beide haben Erfolg. Beide sind der Stolz ihrer Lehrer. Man erwartet etwas, Ruhm vielleicht.
Dasselbe Werk, Jahr für Jahr
Die Hände von Florian Heinisch hängen an den Seiten herab, auffallend kleine Hände für einen Pianisten. Heinisch hält sie seltsam ruhig, wenn er spricht. Kleine Hände machten flexibel, sagt er. Er müsse sich immer wieder etwas einfallen lassen, um die Musik greifen zu können.
Als Florian Heinisch mit dem Sieg des ersten wichtigen Wettbewerbs in die Maschinerie der Pianistenproduktion gerät, ist er elf Jahre alt: Noch einen Wettbewerb gewinnen, und noch einen, wer spielt schneller, wer ist jünger, wer überrascht die Jury und spielt dabei präzise, was sie will? Dasselbe Werk, Monat für Monat, Jahr für Jahr, noch sicherer werden, das hat doch schon mal geklappt, lass das doch besser, ein neues Stück stört den Lauf, den er doch gerade hat, der Florian, oder?
„Da wollte ich kein Pianist mehr werden“, sagt Heinisch.
Im Jahr, in dem Karlrobert Kreiten den Höhepunkt seiner Karriere erreicht, ist er 17 und Adolf Hitler wird Reichskanzler. Studenten verbrennen Bücher auf dem Berliner Opernplatz. Kreiten gewinnt zwei wichtige Klavierwettbewerbe.
Und wie er aussieht. Klare Züge unterm welligen Haar, der Scheitel wie mit einem Lineal gezogen. Karlrobert trägt Brille, und auf den Fotos lächelt er oft ein Mona-Lisa-Lächeln: leicht, unergründlich, aber vielleicht wirkt das auch nur so aus der Entfernung.
Im Haus der Eltern Kreiten in Düsseldorf gehen Künstler ein und aus. Musiker. Pianisten, Dirigenten, Komponisten. Gieseking, Furtwängler, Backhaus. Es wird gern parliert. Nein, nicht gerade über Politik, das lässt man lieber. Nur in engstem Kreis. Die Entwicklung nach 1933? Ja, grobschlächtig, nicht passend, unangenehm. Man wird es überstehen. Vater Kreiten raucht Zigarre, fragt sich, warum wird sie kürzer, nicht länger? Ein Leiden ist das doch. Die künstlerische Gesellschaft im Hause lacht. Der Junge mit Schillerkragen und Knabenanzug mittendrin lächelt, er spricht nicht viel. Er malt gern. Und spielt Klavier.
Studium in Berlin und Wien, 1938 kommt per Brief die Einladung, in die USA zu reisen und dort die Karriere aufzubauen. Deutschland wäre weit weg, die Nationalsozialisten so gut wie unwichtig.
„Wäre das Buch des Lebens vor ihm aufgeschlagen gewesen, würde Karlrobert sicher keinen Augenblick gezögert haben, diesem Ruf übers Meer zu folgen.“ Theo Kreiten, der Vater
Aber Furtwängler, der Dirigent, drängt ihn, zu bleiben. Wer ließe sich auch nicht gern drängen vom mächtigsten Musiker im Lande? Oder waren es die Eltern? Oder doch eine Liebe? Karlrobert Kreiten bleibt und zieht nach Berlin.
Ein Windstoß trägt die von Blütenduft schwere Luft durch die Tür in den Raum. Heinisch zögert, er will rausgehen. Er setzt sich auf eine Bank. Von überall erinnert ein Schriftzug an die Opfer der Hitlerdiktatur. Heinisch erzählt, wie er nach seinen Erfolgen bei Wettbewerben dann zweite Plätze einfährt, dann dritte, dann gar keine mehr. Mit 19 beginnt er ein Schulmusikstudium.
„Das ist erst mal ein Knick“, sagt Heinisch. „Da war dann ein Loch da. Ich bin quasi von der Bildfläche verschwunden.“
Zwei, drei Jahre später holt Heinisch der Traum von der Bühne wieder ein. Er legt noch einmal die Aufnahmeprüfung an einer Musikhochschule ab. Aber gegen die Wettbewerbsmaschinerie sperrt er sich. Er will mehr von der Musik als, wie er sagt, schön gestaltete Phrasen.
Vielleicht ist Florian Heinisch auch deshalb im Februar in den Irak geflogen. Das Jahr war noch jung, aber sie zählten schon 900 Tote durch terroristische Anschläge. In Bagdad wollte er ein Konzert geben, ausgerechnet an dem Ort, an dem Musiker auf offener Straße angegriffen oder getötet wurden, nur weil sie ein Instrument auf den Rücken geschnallt hatten. Als ihn ein Konvoi zur Deutschen Botschaft brachte, erzählten sie ihm von den neuen Haftminen, die fünf, sechs Sekunden am Auto kleben bleiben, bevor sie es in die Luft jagten. Ja, sagten sie, auch gepanzerte Fahrzeuge wie das, in dem er saß. Kann man nix machen. Das Konzert war eines der intensivsten, die Heinisch erlebt hat. Endlich habe er gespürt, dass es in der Musik darum gegangen sei, Menschen zu berühren, sagt er. Dass die Musik etwas mit ihnen gemacht habe.
Wahrscheinlich will Heinisch auch deshalb ein Konzert nachholen, das Karlrobert Kreiten ungespielt lassen musste. Werke von Komponisten spielen bedeutet: die technischen Schwierigkeiten bezwingen, die Musik erforschen, vermuten: Was hat der gewollt, warum hat er das geschrieben? Das ist eine Sache. Das gehört immer dazu.
Etwas völlig anderes ist es aber, das Konzert eines toten Interpreten nachzuholen. Wie geht man das an?
Heimisch erzählt, was Kreiten für ein Typ gewesen sein mochte: einer, der seinem Publikum im Mai 1943 ein hochvirtuoses Programm kredenzt, als wolle er angeben, dann aber so risikoreich spielt, als würde sonst die Welt untergehen. Die Stimme bricht ihm immer wieder weg, was im Kontrast steht zu der Kontrolliertheit, mit der er die Worte setzt. Ein virtuoses Programm, sagt Heinisch, schweißtreibend. Bach/Busoni, Mozart, Beethovens „Appassionata“, sechs Chopin-Etüden, ein Liszt. In den Konzertsälen hängen Banner: „Unsere Mauern zerbrechen, aber unsere Herzen nicht.“
„Er ist – trotz aller beruflichen Leistungen als Künstler – eine Gefahr für unseren Sieg.“ Aus dem Urteil
Am 3. Mai 1943 wird der Pianist Karlrobert Kreiten im Künstlerzimmer der Heidelberger Universität von Gestapo-Beamten verhaftet. Es sind noch 45 Minuten bis Konzertbeginn. Er hat die schwarzen Lackschuhe schon angezogen. Am 3. September schreibt der Richter das Urteil, am 7. September wird Karlrobert Kreiten gehängt. Wenig später erhält seine Mutter ein Päckchen. Darin ein Paar Konzertschuhe und die Rechnung über die Hinrichtung.
Am 26. Juni 2016 wäre Karlrobert Kreiten hundert geworden. An diesem Tag wird Florian Heinisch im Künstlerzimmer der Heidelberger Universität seine Konzertschuhe zubinden. Vielleicht streift er die Handflächen an der dunklen Hose ab, schlägt dann noch einmal das Notenheft mit der „Spanischen Rhapsodie“ von Liszt auf, um lieber doch nicht hineinzusehen. Bestimmt aber steigt er auf die Bühne, und der Scheinwerfer blendet.
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