Die Kontrolle verlieren

DRAMA Im Modus der Panik. Neue Stücke von Thomas Melle und Roland Schimmelpfennig bei den Autorentheatertagen im Deutschen Theater zum Stand der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik

Benjamin Grüter (Jesko) und Mareike Hein (Bettina) in „Bilder von uns“ von Thomas Melle, inszeniert von Alice Buddeberg Foto: Thilo Beu

von Katrin Bettina Müller

„Ich hätte so gern, dass alles so ist wie vorher“. Eine Frau denkt diesen Satz in Roland Schimmelpfennigs Stück „An und aus“. Da ist ihr Liebhaber verletzt, ihre Ehe versteinert, ihr Haus zerfallen; es ist die Nacht, in der der Strom ausfällt und eine Welle vom Meer in die Städte einbricht. Der Wunsch, zurückkehren zu können in eine Zeit vor der Störung, vor den Zweifeln, treibt auch Jesko um in dem Stück „Bilder von uns“ von Thomas Melle. Da möchte ein erfolgreicher Manager und Medienmensch nicht mit einer Vergangenheit konfrontiert werden, in der er womöglich einmal der Schwache und das Opfer war. Beide Stücke waren am Wochenende bei den Autorentheatertagen im Deutschen Theater in Berlin zu sehen – stets ein guter Überblick über die deutschsprachige Gegenwartsdramatik.

Noch in einem dritten Stück, „Città del Vaticano“ von Falk Richter, das als Gastspiel aus Wien am Maxim Gorki Theater aufgeführt wurde, fiel ein ähnlicher Satz, diesmal im Kontext von rechtspopulistischen Ansagen. Dass alles wieder einfach wird und dass sie ohne Angst vor den Fremden und ohne Angst vor den Fremdenhassern leben kann, ist da der Wunsch einer Frau, die gerne das Rad der Zeit zurückdrehen würde. Dass dies nicht geht, dass man mitgerissen wird, keine Kontrolle mehr über das eigene Leben hat – mit diesem Zustand der Ohnmacht kämpfen, wenn auch auf ganz unterschiedlichen Schauplätzen, die Stimmen der Erzählenden in allen drei Aufführungen.

Aggressive Untertöne

Thomas Melle, 1975 geboren, ist als Romanautor bekannt. Managertypen, Alphatiere, junge, erfolgsbewusste Männer, die nicht gerade sympathisch gezeichnet werden, sind die Protagonisten in „Bilder von uns“. Erzählstrecken wechseln mit Dialogen ab in dem bedrängenden, überinformierten Text. Jesko und Malte leben von öffentlichen Auftritten, Johannes ist Anwalt. Ihrer Sprache gemeinsam ist das Auf-Abwehr-Schalten, auch ihre Freundschaft ist gespickt mit aggressiven Untertönen. Sie blicken herab auf Konstantin, den Depressiven – depressiv, obwohl er doch einmal Lieblingsschüler des Paters an ihrer Schule war. Der suche doch nur nach Begründungen für seine Verkorkstheit, wirft Jesko ihm vor, und deshalb wolle er über die Schulzeit reden, den Missbrauch durch Lehrer und Pater. Dabei will auch Konstantin nicht darüber reden, er ist viel zu fertig, angstvoll, zittrig, ein Selbstmordkandidat.

Melles Text erzählt vom Missbrauch der Jungen mit einer ungewöhnlichen Haltung. Der Skandal liegt hier nicht nur in den Übergriffen und dem Verschweigen der Schuld durch die Schule selbst, sondern mehr noch darin, wie sich die, die ehemals Opfer in diesem System von Begünstigung und Erniedrigung waren, selbst lange gegen die Aufklärung stellen. Keine Berührung mit den Verlierern ist das Resultat ihrer erfolgsorientierten Erziehung.

Alice Buddeberg hat das Stück in Bonn inszeniert, und die Geschichte bezieht sich auf eine katholische Schule in Bonn Bad Godesberg. Manchmal durchschießen Informationspakete die Dialoge, ausbalanciert ist das Verhältnis von Fiktion und Aufklärung nicht in dem Text. Mit etwas zu viel Druck sprinten die Schauspieler durch die Szenen, als müsse man das Stück jetzt hinter sich bringen. Keine Empathie zu empfinden, das ist in „Bilder von uns“ ein Effekt dessen, was Jesko und die anderen als Kinder erfahren haben. Die Dynamik der Inszenierung aber hält auch den Raum schmal, in dem der Zuschauer Empathie gegenüber den Figuren entwickeln könnte.

Die liebebedürftigen Hotelbesucher sehen plötzlich mit zwei Köpfen

Komödie wird zur Tragödie

Auch „An und aus“ von Roland Schimmelpfennig, von Burkhard C. Kosminiski am Nationaltheater Mannheim inszeniert, hielt die Zuschauer merkwürdig außen vor. Das Bühnenbild ist aus Papier, die Schauspieler zeichneten sich dort die Betten eines kleinen Hotels am Hafen hinein, in denen jeden Montag drei Paare fremdgehen. Bis die Papierwände auf sie herabfallen und sie unter sich begraben und die erotische Komödie zur Tragödie wird, zur Erzählung über eine Katastrophe vom Ausmaß von Fukushima. 2013 hatte Schimmelpfennig das Stück im Auftrag des Tokyo National ­Theatre geschrieben. Die Inszenierung betont das Versponnene der Sprache, in die Schimmelpfennig die Erzählung über den Schock packt, über den Moment, in dem sich alles verändert. Die liebebedürftigen Hotelbesucher sehen plötzlich mit zwei Köpfen, oder verwandeln sich in Fische und in Steine.

Aber der Versuch, das Schwere leicht zu machen und vom Zusammenbruch einer Stadt und der Infrastruktur nur vermittelt zu erzählen, funktioniert nicht gut. Zwar sind die Sprachbilder zu den Beziehungskrisen und dem Sterben der Liebe selbst, die Schimmelpfennig entwickelt, teils bestechend schön. Aber letztendlich auch hilflos. So genau sie vermitteln, wie die Menschen von einem Moment auf den nächsten alle Bestimmung über sich verlieren, so sehr verliert sich der Text auch in Details.