Musikzimmer mit Ausblick: Barbara Morgenstern in ihrem Heimstudio mit dem Bücherregal in Griffnähe

Sex, Drugs, Kontoauszug

MusikgeschäftAm Dienstag feiert man wieder die Fête de la Musique. Eigentlich aber ist Berlin ein ganzjähriges Fest für die Musik. Die Branche boomt. Alles gut also? Tatsächlich spürt man in der Szene eine Euphorie – und das Unbehagen, an den prekären Rand gedrängt zu werden

Von Jens Uthoff
Fotos Karsten Thielker

Barbara Morgenstern scheint selbst manchmal schwindelig zu werden, wenn sie an die Umwälzungen denkt, die die Musikkultur in den vergangenen Jahrzehnten durchgemacht hat. Seit fast 20 Jahren ist die Musikerin und Sängerin eine feste Größe im deutschen Pop, und sie staunt, was sich alles getan hat seither. Zum Beispiel, wenn sie heute ein Album aufnehme: „Es ist nicht mehr möglich, sich ein, zwei Monate rauszuziehen und sich nur der Produktion zu widmen“, sagt die 45-Jährige, während sie am Kaffee in der heimischen Wohnung in Mitte nippt. „Früher gab es Vorschüsse von den Labels – das bedeutete Zeit, um sich um die Produktion zu kümmern.“ „Passé“, sagt Morgenstern. Im Indie-Bereich kaum mehr üblich.

Für die Musikerin heißt das, dass sehr vieles parallel laufen muss: An einem Nachmittag hat sie ein Theaterprojekt mit Rimini Protokoll, am nächsten ist sie beim Chor im Haus der Kulturen der Welt, am dritten hat sie einen Videodreh. Nebenbei sei man irgendwie auch noch Promoter in eigener Sache, müsse die sozialen Medien füttern – und Songs wollen auch noch geschrieben werden. Morgenstern macht dies praktischerweise im heimischen Wohnzimmer vor dem Bücherregal. Dort hat sie ein Mini-Heimstudio mit Mischpult, Macbook, Mikrofon, Keyboard und weiteren Instrumenten aufgebaut. Musikzimmer mit Ausblick.

Sicher, man kann sagen, diese Art des kreativen Chaos, auch die finanzielle Ungewissheit gehöre seit jeher zum Musikmachen und zum Kulturschaffen dazu. Dennoch ist es auffällig, dass viele Musiker und Kreative in Berlin ihre finanzielle Situation immer schwieriger einschätzen, wie es auch ein Blick in die Studien zur hiesigen Musik- und Kreativwirtschaft zeigt (siehe Kasten).

Dabei hat sich die Musikindustrie eigentlich wieder erholt nach den Jahren der Krise: Zwischen 2009 und 2013 verzeichnete die Branche in Berlin-Brandenburg wieder ein deutliches Wachstum. Der Markt aber wird derweil auch immer voller, ungebrochen strömen Künstler und Kulturschaffende nach Berlin.

Einen hübschen Überblick, was da musikalisch alles geht in der Stadt, bekommt man immer zum Sommeranfang am 21. Juni bei der Fête de la Musique, die sich mächtig entwickelt hat: Gab es 1995 bei der ersten Ausgabe des aus Frankreich importierten Straßenfestivals in Berlin eine einzige feste Bühne mit acht Bands, sind es bei der 22. Ausgabe am Dienstag rund 100 Bühnenstandorte im gesamten Stadtgebiet. Wirklich alle Stilrichtungen sind vertreten, von Straßenpunk über Chorgesang bis zu Klassik. Musiziert wird ab 16 Uhr, zur späteren Stunde feiert man die Fête de la Nuit. Programm: www.fetedelamusique.de, der Eintritt ist frei.

Ein Auftritt von Bruce Spring­steen, so als Straßenmusiker bei der Fête, wäre natürlich der Knüller. Wird eher nicht passieren. Nach Berlin aber kommt er: Am Sonntag spielt „The Boss“, mit mehr als 120 Millionen verkauften Platten weltweit einer der erfolgreichsten Musiker aller Zeiten, mit seiner E Street Band im Olympiastadion. Und aus diesem Anlass soll doch noch mal gewürdigt werden, dass es neben dem Papst Johannes Paul II. und David Hasselhoff („Looking For Freedom“) auch Springsteen war, der die Mauer zum Wanken brachte. Weil er nämlich bei seinem Konzert in Ostberlin am 19. Juli 1988 auf der Radrennbahn Weißensee auch den Satz sagte: „Ich bin gekommen, um Rock ‘n‘ Roll zu spielen, in der Hoffnung, dass eines Tages alle Barrieren umgerissen werden.“

Prominentes Personal des Berliner Indie-Mittelstands findet sich auf der Bühne des HAU 2 bei „Der Spielmacher – Ein Fussical“. Bei diesem „Theater-Hybrid aus Fußball und Musical“ kommen unter anderem Jens Friebe, Chris Imler, Andreas Spechtl und auch Christiane Rösinger zum Einsatz. Von Letzterer stammt ja die schöne und zu den Seiten hier bestens passende Liedzeile: „Ist das noch Bohème oder schon die Unterschicht?“ Fussical-Premiere ist Freitag, 24. Juni. (tm)

Intransparente Industrie

Da es keine genaueren Statistiken nur für die Musikbranche gibt, lässt sich kaum ausmachen, wer von den Zuwächsen profitiert. „Die Musikindustrie war schon immer intransparent und unübersichtlich“, sagt Katja Lucker, Chefin des vom Senat eingerichteten Musicboard, „man müsste genauer wissen, welche Akteure sich hinter den Umsatzzahlen verbergen. Sonst kann man viel spekulieren.“ Nahe liegt aber, dass die Sparten Digitalvertriebe und Streaming hinzugewonnen haben dürften.

In Berlin und Brandenburg zählt man insgesamt etwa 1.500 Musikunternehmen und rund 15.000 Menschen, die ihr Geld in dieser Branche verdienen – vom Kleinbetrieb bis zum Majorlabel, von Klassik bis Pop. Das Gros davon entfällt natürlich auf Berlin, und in einer solchen Musikstadt scheint es ohnehin immer konträre Entwicklungen zugleich in der Kreativwirtschaft zu geben – über einen Kamm scheren lässt sich da gar nichts.

So hat Barbara Morgenstern zum Beispiel recht, wenn sie sagt, es gebe ja derzeit „eine Euphorie in der Musikszene, weil tierisch viel los“ sei. Da sind sich in der Tat alle in der Musikszene einig, die man gerade fragt: Internationaler, interdisziplinärer, interkultureller und vernetzter als jetzt war die Musikszene an der Spree wohl nie.

Macht musikalisch, worauf er Lust hat: Kleinlabelbetreiber Barry Cliffe beim Bier

Gleichzeitig aber gibt es ein Rumoren und ein Unbehagen darüber, dass sich die ökonomischen Bedingungen für einen bestimmten Teil der Branche verschlechtert haben. „Der musikalische Mittelstand hat es aufgrund der Entwicklungen der Digitalisierung heute sicher schwerer“, sagt Morgenstern. „In Berlin kommt hinzu, dass die Neunziger natürlich eine absolute Ausnahmesituation waren. Vielleicht ist man von diesem Traumzustand noch verwöhnt.“ In jener Zeit, in der die Mieten surreal günstig waren und die Stadt ein Abenteuerspielplatz war, blühte genau dieser musikalische Mittelstand auf: Labels wie Kitty-Yo, Hard Wax, Tresor Records und Morr Music entstanden, für Morgenstern verkörpern sie alle den Geist dieser Zeit.

Für das Label Morr Music arbeitet heute Florian Zimmer. Zimmer, Musiker in den Bands Saroos und Driftmachine, ist ein gutes Beispiel dafür, wie man sich heute als „Kulturarbeiter“ finanzieren kann. Er arbeitet als Promoter für das Label, auf dem Indie- und Elektronikbands wie Tarwater oder die Berliner Musikerin Masha Qrella veröffentlichen. Auch für das Label Alien Transistor, das die Notwist-Musiker Michael und Markus Acher betreiben, ist Zimmer tätig – und widmet sich den Rest der Zeit seiner Musik oder seiner Familie und seinen drei Kindern.

Zimmer kam vor elf Jahren aus München an die Spree. Ihm erschien es in Berlin realistischer, als Künstler und Kulturschaffender mit Familie zu leben und überleben. „In München war der finanzielle Druck sehr groß, hier war es um einiges entspannter.“ Wenn man heute neu herkäme, sei das schon wieder anders, weil die Mieten so angezogen hätten. Musiker aber betreffe die Gentrifizierung auch noch auf anders: „Proberäume zu bekommen ist viel schwieriger geworden“, sagt Zimmer, der in Prenzlauer Berg ein kleines Büro hat, „und wenn die Clubs mehr Miete zahlen müssen, betrifft es die Musiker am Ende auch.“

Gagen gehen nach unten

Die Folgen der Digitalisierung

„Der musikalische Mittelstand hat es aufgrund der Entwicklungen heute sicher schwerer“

Barbara Morgenstern

Denn auch im boomenden Live-Geschäft habe sich die Lage für den kleinen Durchschnitts-Indiemusiker nicht zum Positiven entwickelt: „Die Gagen sind niedriger und die Bedingungen schlechter geworden“, sagt Zimmer. Ein Beispiel? Es gebe inzwischen Deals, bei denen die auftretenden Bands dafür zuständig seien, die Gema-Gebühr selbst zu übernehmen.

Für ihn persönlich sei das alles noch zu stemmen, sagt der 48-Jährige. Es dürfe nur finanziell nichts wegbrechen. Wenn die Künstlersozialkasse etwa nicht wäre und er den vollen Versicherungsbeitrag zahlen müsste, würde das schon ausreichen, um eine finanzielle Krise zu verursachen. „Man wurschtelt sich halt so durch. Über die Rente darf man sich dabei nicht zu sehr einen Kopf machen.“

Förderungsmöglichkeiten ha­ben Morgenstern und Zimmer bislang eher wenig in Anspruch genommen – beide halten dies aber heute für einen vielversprechenden und gangbaren Weg. „Ich finde es nur wichtig, dass man noch mehr Künstler fördert, die schon seit langer Zeit in Berlin aktiv sind“, sagt Morgenstern.

Wobei die Mittel der direkten Popförderung begrenzt sind: Das vom Senat im Jahr 2013 geschaffene Musicboard ist mit 1,7 Millionen Euro Jahresetat nicht in der Lage, die ganz großen Sprünge zu machen. Die meisten zu vergebenden Stipendien des Musicboards bewegen sich finanziell in einem Rahmen von etwa 10.000 Euro.

Laut Kultur- und Kreativindex Berlin-Brandenburg von 2015 (KKI) gab es im Jahr 2013 insgesamt 1.494 Musikunternehmen vom Einzelbetrieb bis zum Majorlabel in der Hauptstadt und im benachbarten Bundesland. 2014 gab es der Studie zufolge insgesamt 15.241 Erwerbstätige in der Musikbranche, davon zwei Drittel Selbstständige.

Die jüngsten vorliegenden Umsatzzahlen der Musikbranche sind aus den Jahren 2012 und 2013: Da machte die hiesige Musikwirtschaft innerhalb eines Jahres einen Sprung von 1,017 Milliarden auf 1,861 Milliarden Euro. Am gesamten Kultursektor haben Musikprodukte und -veranstaltungen dabei einen Anteil von knapp 12 Prozent des Gesamtumsatzes.

In allen Teilmärkten der Kreativbranche (abgesehen von der Architektur) wuchs laut KKI zwischen 2011 und 2015 für einen Großteil der Marktteilnehmer stetig die Unzufriedenheit mit dem eigenen Einkommen. (jut)

Muss die Kulturpolitik und Förderung also grundsätzlich umdenken?

Für Musicboard-Leiterin Lucker ist das – wenig überraschend – klar. Mit einem Blick auf den Kulturhaushalt und einem Hieb Richtung Kulturstaatssekretär sagt sie: „Wenn Tim Renner knapp 400 Mil­lio­nen Euro hat und das Musicboard nur 1,7 Millionen, stimmt die Relation noch nicht.“ Wobei von den Geldern für die Theater etwa mittlerweile auch viel Geld in den Pop fließt. Das Hebbel am Ufer (HAU), die Volksbühne, das Haus der Kulturen der Welt: All diese subventionierten Häuser haben Popprogramme. Und das Letzte, was Berlin brauche, so Lucker, seien Verteilungskämpfe innerhalb der verschiedenen Kultursparten – die aber gebe es natürlich bereits.

Mit der Clubcommission Berlin und dem Music Pool Berlin gibt es zwei Institutionen in Berlin, die für Beratungsangebote und Lobbyarbeit zuständig sind. Die Clubcommission vertritt vor allem die Interessen der Clubbesitzer und der elektronischen Musikszene der Stadt (www.clubcommission.de). Der Music Pool Berlin ist Anlaufstelle für alle Akteure der Musikwirtschaft, zuständig für Beratung, Weiterbildung und Diskussionsveranstaltungen (musicpoolberlin.net).

Möglichkeiten der finanziellen Förderung haben Musikerinnen und Musiker über das Musicboard Berlin, das Stipendien und Residenzen für in Berlin lebende Künstlerinnen und Künstler vergibt und die Interessen der Popszene der Stadt vertritt (www.musicboard-berlin.de).

Für spezielle Projekte können sich Musiker oder Veranstalter darüber hinaus auch über den Hauptstadtkulturfonds und die Kulturstiftung des Bundes fördern lassen. (jut)

Insgesamt nehme man Popkultur dabei bis heute viel zu wenig ernst: „Clubs sollten zum Beispiel wie Opern oder Theaterhäuser auch als Kulturinstitutionen angesehen werden“, sagt Lucker, „langsam ändert sich da etwas, weil die Politik begreift, dass Berlin auch so attraktiv ist wegen der Clubs und der Livemusik.“

Lust auf Selbermachen

Neben der musikalischen Mittelklasse gibt es natürlich weiterhin parallel die Do-It-Yourself-Szene, für die der Wirtschaftsfaktor eine untergeordnete Rolle spielt. Der Ire Barry Cliffe betreibt gemeinsam mit Amande Dagod seit 2014 das Kleinstlabel Späti Palace, mit dem er eine Plattform für den lokalen Gitarren-Underground geschaffen hat – er organisiert zudem Konzerte. Auf Späti Palace, so betont er, veröffentliche er wirklich nur das, worauf er Lust habe und was ihn selbst überzeuge. „Wir machen uns keine Illusionen, von dem Label zu leben, aber das ist auch nicht der Grund, warum wir es betreiben. Es gibt so viele großartige Bands in Berlin, die Leute sollen über uns einen Eindruck davon bekommen, was in Berlin musikalisch los ist.“ Diese Freiheit im Kleinen ist allerdings auch nur deshalb möglich, weil Cliffe Brotjobs bei zwei großen Musikunternehmen hat.

Die Frage nach Förderung

„Die Leute sollten sich einfach begeistern lassen von lokaler Musikkultur“

Barry Cliffe

Staatliche Förderung hält Cliffe nicht für das Nonplusultra, um lokale Musikkultur zu erhalten. Er schlägt einen anderen Weg vor: „Ich glaube, dass die Kultur von der Unterstützung der Bevölkerung getragen werden sollte, dass die Leute sich einfach begeistern lassen sollten von lokaler Musikkultur“, sagt er. Er lehne Förderung nicht grundsätzlich ab, aber ihm gäbe es kein gutes Gefühl, sie in Anspruch zu nehmen „Leider hat es mit Förderprogrammen auch die Bewandtnis, Berlins cooles Image international zu repräsentieren“, sagt er. „Und ich denke, die Mittel werden zu wenig an der Basis eingesetzt, wo sie am dringendsten benötigt werden.“

Wie übrigens Morgenstern auch erwähnt Cliffe beim Bier in einer Neuköllner Kneipe, dass der Niedergang der Printmedien im Bereich der Musik ebenfalls ein gewichtiger Faktor sei. Für eine Stadt der Größe Berlins werde viel zu wenig berichtet, sagt Cliffe – er denke dabei etwa an die wenigen Seiten in den Stadtmagazinen Tip und Zitty.

Barbara Morgenstern bricht nun zur Probe nach Friedenau auf. Im Treppenhaus regt sie sich noch ein bisschen über den Trend zur digitalen Umsonstkultur auf. Stichwort Strea­ming. Viel wäre gewonnen, findet sie, wenn die Leute für das Streaming mehr zahlen müssten. „Es geht auch darum, dass die Leute Kultur wieder mehr wertschätzen“, sagt sie. Morgenstern radelt dann mal los. Sie fährt zur Arbeit.