: Frühchen auch in Minikliniken
GEBURTEN Wie groß müssen Krankenhäuser sein, um extrem Frühgeborene behandeln zu dürfen? Das Bundessozialgericht hält die bisherigen Vorgaben nicht für haltbar
BUNDESSOZIALGERICHT
VON HEIKE HAARHOFF
BERLIN taz | Wenn es um die schwächsten Patienten im Krankenhaus geht, um Kleinstkinder, die ihr Recht auf eine bestmögliche Therapie nicht selbst wahrnehmen können – dann muss zu ihrem Schutz festgelegt werden dürfen: Diese Babys dürfen nur in solchen Kliniken versorgt werden, die eine entsprechende Versorgungsqualität nachweisen können. Diese Argumentation hat das Bundessozialgericht in Kassel am Dienstag grundsätzlich bejaht.
In ihrem Urteil entschieden die Richter des 1. Senats, dass sogenannte Mindestmengen verfassungskonform sind – gemeint ist die Regelung, dass nur solche Kliniken Frühchen versorgen dürfen, die pro Jahr eine bestimmte Behandlungszahl nachweisen können. Allerdings, so die Richter, sei die zuletzt erfolgte Erhöhung der „Mindestmenge“ durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) von zuvor 14 Frühchen auf nunmehr 30 Frühchen jährlich „durch die neuere Studienlage nicht gerechtfertigt“. Die entsprechende GBA-Regelung für Krankenhäuser zur Behandlung von Babys mit einem Geburtsgewicht von unter 1.250 Gramm sei insofern „nichtig“. Der GBA – er ist das oberste Entscheidungsgremium der Selbstverwaltung von Ärzten, Kliniken und Krankenkassen – habe „seinen Beurteilungsspielraum überschritten“.
Damit dürfen selbst sehr kleine Kliniken auch weiterhin extrem früh Geborene medizinisch versorgen. Von ihnen waren 43 gegen den Beschluss des GBA aus dem Jahr 2010 vor Gericht gezogen. Sie dürften sich nun auch in letzter Instanz als Gewinner des Verfahrens sehen, wenngleich das Gericht die grundsätzliche Zulässigkeit von „Mindestmengen“ bestätigte.
Richtig sei, erklärten die Richter, „dass die Qualität des Behandlungsergebnisses Frühgeborener in besonderem Maße von der Menge der erbrachten Leistungen in einer Abteilung abhängig ist“. Wissenschaftlich untermauert sei auch, dass die Sterblichkeitsrate beeinflusst werde „von der Erfahrung und Routine der mit der jeweiligen Versorgung betrauten Krankenhauseinheit“. So hatte auch der GBA argumentiert. Aber das Gericht stellte jetzt fest: Die konkrete Erhöhung der Mindestmenge von 14 auf 30 mute willkürlich an, jedenfalls entbehre sie einer wissenschaftlichen Grundlage: „Die Mortalitätsrate Frühgeborener sinkt nicht linear mit steigender Zahl behandelter Kinder“, so die Richter.
Vielmehr behandelten 56 Prozent der Abteilungen mit einer jährlichen Fallzahl von mindestens 30 die Frühgeborenen mit überdurchschnittlicher Qualität, was die Sterblichkeit angehe, aber „auch immerhin“ 44 Prozent der Abteilungen mit einer Fallzahl von 14 bis 29 Frühgeborenen. Würden die Mindestmengen nun pauschal erhöht, dann, so die Warnung der Richter, komme „in Betracht, dass in einzelnen Regionen Deutschlands die Behandlungsqualität insgesamt sinkt“. Der GBA habe es versäumt, diesbezüglich „Ausnahmetatbestände“ zu schaffen. Auch sei er „nicht der Anregung gefolgt, durch eine Begleitevaluierung die Grundlagen für eine Veränderung der Mindestmengenregelung zu vertiefen“.
Bis Redaktionsschluss äußerten sich weder der GBA noch die Krankenhäuser zu dem Urteil.
Im Jahr 2011 betrug der Anteil der lebend geborenen Kinder mit einem Gewicht bis 1.500 Gramm an allen Geburten 1,233 Prozent, ihr Anteil an den Todesfällen der lebend geborenen Kinder im ersten Lebensjahr lag dagegen bei 41,32 Prozent.
Nach Angaben der Deutschen Kinderhilfe werden bundesweit jährlich etwa 60.000 Kinder zu früh geboren. Für ihre Versorgung erhalten Kliniken pro Patient etwa 60.000 bis 80.000 Euro. (Az.: B 1 KR 34/12 R)