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Stalin orgeln, Hummeln beobachten

IM KREUZVERHÖR Sahra Wagenknecht (Die Linke) beim „Spiegel“-Podiumsgespräch in Clärchens Ballhaus in Berlin

„Der Spiegel live im Spiegelsaal“. Witziger Titel. Montagabend. Sahra Wagenknecht wird in Clärchens Ballhaus von den Spiegel-Redakteuren René Pfister und Markus Feldenkirchen befragt. Es ist proppenvoll, ziemlich warm und ein paar Meter entfernt trainiert zeitgleich die „Autoren-Nationalmannschaft“.

Eingerahmt von den beiden Journalisten muss Sahra Wagenknecht bei ihren Antworten mal nach links, mal nach rechts und dann wieder geradeaus ins Publikum schauen. Im Sinne der Effizienz sind zwei Frager vorteilhaft; so lassen sich die hundert kurzweiligen Minuten mit mehr „Content“ füllen. Nachteilig möglicherweise, dass das Gespräch ein bisschen so wirkt, wie eine Live-Version des Spiegels, also sehr formatiert und dicht getaktet. Sahra Wagenknecht beeindruckt durch schlankes Charisma.

Anfangs geht es um die Tortenattacke, die allseits beklagte Verrohung der Sitten, um den Vorwurf, sie vertrete AFD-Positionen, wenn sie „die Banalität“ (Wagenknecht) ausspricht, dass die Aufnahmekapazitäten beschränkt seien. Wagenknecht antwortet präzise und klar, zuweilen aber auch mit Allgemeinplätzen wie „Fluchtursachen bekämpfen“. Man muss ihre Position – gerade in der Außenpolitik – nicht teilen; sie sind aber durchgehend dialogoffen.

Über ihre „seltsame Jugend“ (Ankündigung) als Einzelkind, das bei den Großeltern aufwuchs und dem auch später attestiert wurde, sich nicht ins Kollektiv einfügen zu können, spricht sie eher knapp. Fragen nach ihrem zweiten Ehemann Oskar Lafontaine sind ihr zu privat. Obgleich sie erst 1990 studieren durfte, hatte sie „die Illusion, dass es eine bessere DDR geben könnte“. Angesprochen auf ihren Aufsatz von 1990, in dem sie Stalin gelobt hatte, sagt sie zu Recht: „Ich weiß nicht, was andere mit 23 geschrieben haben“. Sie wehrt sich auch gegen die Unterstellung, es sei ein Akt der Anpassung gewesen, später ihre Meinung zu ändern.

Wirtschaftsmacht sollte nicht vererbbar sein, Unternehmen sollten sich selbst gehören. Geschichte bestehe nicht darin, dass Altes sich wiederholt, sondern dass etwas Neues entsteht. Ob es ein vorbildliches Land gebe? – Nein, aber in Skandinavien sei das Bildungssystem, in Österreich das Rentensystem besser. Am meisten Beifall bekommt sie, als sie sich weigert, Fragen nach ihrem Äußeren zu beantworten.

Eine Utopie aus ihrem neuen Buch „Reichtum ohne Gier“ ist so unspektakulär wie einleuchtend: nicht mehr als dreißig Stunden pro Woche arbeiten, auf Wiesen liegen und Hummeln beobachten.

Detlef Kuhlbrodt

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