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Der Geist von Brodowin

Landleben Brodowiner Milch kennt man auch in Berlin und mit ihr das Ökodorf Brodowin. Am Wochenende feiert der Betrieb 25-Jähriges. Brodowin erschöpft sich aber nicht im Ökodorf. Da ist mehr: andere Höfe, andere Hoffnungen. Eine Geschichte über die Lust an Gemeinschaft, nüchterne Rechnungen – und harte Arbeit

Von Susanne Messmer und Claudius PrößerFotos Dagmar Morath

Manchmal kommen diese Anfragen per E-Mail: ob man sich nicht für ein paar Monate der Kommune anschließen und ein bisschen mitarbeiten könne? Gegen Kost und Logis? Dann muss Ludolf von Maltzan dem Absender antworten, dass das Ökodorf Brodowin, rein wirtschaftlich betrachtet, ein ganz normales landwirtschaftliches Unternehmen ist. Das sich im Übrigen ans Mindestlohngesetz zu halten hat.

Von Maltzan weiß das genau, er ist Hauptanteilseigner und Geschäftsführer. Den Namen „Ökodorf“ hat er 2006 mit dem Betrieb übernommen, erzählt er an einem diesigen Morgen im Laden seines Hofs. Kommerziell betrachtet ist dieses Label ein Segen. Und auch etwas irreführend, denn es bezeichnet nur den Betrieb, der an diesem Wochenende seinen 25. Geburtstag feiert. Das Dorf Brodowin aber ist weit mehr als das „Ökodorf“ – und auch nicht erst nach der Wende vom Himmel gefallen.

Brodowin, 70 Kilometer nördlich von Berlin im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin gelegen, ist ein idyllisch platziertes Straßendorf auf fast halber Strecke nach Stettin. Die sanften Hügel der Endmoränenlandschaft um das Dorf herum sind Agrarland, sehen aber anders aus als die meisten Landstriche Brandenburgs: Es gibt mehr Hecken, Säume, ganze Wiesen voll seltener Blumen. Wer genau hinsieht, wird vielleicht irgendwo einen Pirol oder Neuntöter entdecken. Es gibt eine Dorfkneipe, ein paar Storchennester und als wichtigsten Arbeitgeber den größten Demeter-Betrieb Deutschlands, das „Ökodorf Brodowin“. Das genau genommen aus drei GmbHs besteht: einer, die auf 1.250 Hektar Biogemüse, Getreide und Viehfutter anbaut sowie 250 Milchkühe, ebenso viele Milchziegen und rund 3.000 Hühner hält, eine Meierei, die die Milch zu Joghurt, Mozzarella oder Hartkäse weiterverarbeitet, und eine Vertriebsgesellschaft, die die gesamte Produktpalette auch als „Ökokorb“ wöchentlich an Direktkunden liefert. 2.000 Körbe sind es derzeit.

Die Brodowiner Milch

25 Jahre Ökodorf

An diesem Wochenende feiert der Demeter-Betrieb Ökodorf Brodowin seinen 25-jährigen Geburtstag. Sowohl am Samstag als auch am Sonntag gibt es jeweils ab 11.30 Uhr ein vielfältiges Programm mit Führungen, Musik, Film, Theater, Kinderprogramm und anderem mehr. Am Anfang fliegen 25 Friedenstauben, am Ende wird die schönste Ziege getauft. Der Eintritt beträgt pro Tag 3 Euro, Kinder bis 16 Jahre zahlen nichts. Adresse: Ökodorf Brodowin, Weißensee 1, 16230 Chorin OT Brodowin, weitere Informationen zum Betrieb und zu Brodowin: www.brodowin.de

Wer die Rohmilch, den Käse oder Saft der im Text erwähnten Familie Bressel probieren will, der kann dies im Laden des Hofs Schwalbennest tun: Pehlitz 3, 16230 Chorin OT Brodowin. Mehr Info unter www.hofschwalbennest-brodowin.de

Auch wer in Berliner Bioläden einkauft, kennt die Brodowiner Milch. Sie steht in braunen Glasflaschen oder patentierten Kalkkunststoffbeuteln im Kühlregal, ist gut 30 Cent teurer als die Hausmarken der Bioketten und – das macht sie in der Region ziemlich einzigartig – nicht homogenisiert. „In anderen Molkereien, auch Biomolkereien, wird die Milch unter hohen Temperaturen durch Mikrofilter gepresst“, sagt Ludolf von Maltzan, „dadurch zerlegen sich die Fetttröpfchen in Nanogrößen.“ Viele Menschen hätten Probleme damit, sie zu verdauen, erklärt der studierte Agraringenieur.

Das Logo der „Ökodorf“-Marke ist ein stilisierter Ochse, der einen Pflug zieht. Der Ochse hat Hörner, und das ist ausnahmsweise kein Etikettenschwindel: Die Richtlinien des anthroposophischen Demeter-Verbands beinhalten das Verbot, Nutztiere aus praktischen Gründen zu verstümmeln, wie es sonst Usus ist. Die Tiere stehen auch nicht auf modernen Spaltenböden, sondern auf Stroh, sie sind nicht angebunden und dürfen immer auf die Weide, wenn ihnen danach ist – und die Kälber trinken nach der Geburt eine Woche lang am mütterlichen Euter.

Natürlich würde ein Kalb viel länger bei der Mutter trinken, räumt von Maltzan ein, „aber da kommt dann schon unser Wunsch zum Tragen, dass wir Menschen das wertvolle Lebensmittel Milch für uns haben wollen“. In jedem Fall sind die Bedingungen weitaus besser als in der konventionellen Viehwirtschaft, zum Teil auch als jene, die das normale EU-Ökolabel vorschreibt. Bei den Hühnern lässt die Ökodorf GmbH auch die männlichen Geschwister der Legehennen aufwachsen, um später ihr Fleisch zu nutzen. Das übliche Kükenschreddern findet hier nicht statt.

Vergrabene Kuhhörner

Weil die Demeter-Landwirtschaft auf die Lehren von Rudolf Steiner zurückgeht, kommt auch die Esoterik nicht zu kurz. Für „biodynamische Präparate“ etwa werden die Hörner der Kühe nach dem Schlachten mit Kräutern befüllt und im Acker vergraben. Nach einem Jahr wird der Inhalt in sehr viel Wasser verrührt. Früher wurde das von Hand gemacht, mit Blick auf die Felder. Ob die Maschine, die inzwischen das Rühren übernimmt, diesen Blick zu würdigen weiß, ist nicht bekannt. Wie auch immer: Ludolf von Maltzan hält die Anthroposophie für eine „sehr gute“ Idee, zwingt aber keinen Mitarbeiter, daran zu glauben.

Das Ökodorf: ein ganz normales Unternehmen. Das sich im Übrigen ans Mindestlohngesetz zu halten hat

All das fließt in den Preis der Ökodorf-Produkte ein. So, wie die Kühe gehalten werden, gibt jede 7.800 Liter Milch im Jahr. Das sind gerade einmal 60 Prozent der Menge, die in konven­tio­nellen Betrieben herausgeholt wird. Weil es den Kunden von Biomilch nicht einfach nur aufs Sparen ankommt, muss die Brodowiner Milch zwar nicht mit Discountern konkurrieren, wo der Literpreis auf derzeit knapp über 40 Cent gefallen ist. Dass es aber auch bei den Biomärkten deutlich billigere Biomilch gibt, ist schon eher ein Problem. Von Maltzan erklärt den Preisvorteil der Wettbewerber unter anderem damit, dass diese in denselben Molkereien abfüllen lassen wie konventionelle Landwirte. 1,42 Euro kostet ein Liter Ökodorf-Milch im Hofladen. „Eigentlich bräuchten wir sogar 10 Cent mehr pro Liter, aber dafür ist gerade kein Verständnis da“, sagt er. „Ich hoffe, dass unsere Kunden uns treu bleiben.“

Bevor von Maltzan, der seine Kindheit auf einer südafrikanischen Farm verbracht hat, 2006 den Betrieb in Brodowin übernahm, war er Geschäftsführer eines Biobetriebs in Mecklenburg gewesen. Es habe einen enormen Investitionsstau in Brodowin gegeben, erinnert er sich. Trotzdem habe er hier einen Geist vorgefunden, mit dem er nicht gerechnet hatte.

Glauben an Gemeinschaft

In die Ökodorf GmbH, eine frühere LPG, hatte bereits kurz nach der Wende das Berliner Unternehmerehepaar Upmeier investiert. Etwas ganz Entscheidendes war aber schon vorher geschehen: Die Brodowiner Bauern hatten den landwirtschaftlichen Großbetrieb nach dem Ende der DDR nicht zerstückelt und sich ins Private zurückgezogen. Sondern den Betrieb voller Enthusiasmus in eine Genossenschaft überführt, auf eigene Initiative und gemeinschaftlich.

„Es war schon ein ganz besonderer Aufbruchsgeist damals“, sagt Hannelore Gilsenbach bei einem Spaziergang am Nachmittag auf ihrem 12.000 Quadratmeter großen Grundstück am anderen Ende des Dorfes, am Rande des Moors Plagefenn. 1907 wurde hier das erste Naturschutzgebiet Norddeutschlands eingerichtet. Hannelore Gilsenbach ist Schriftstellerin, Biologin und Liedermacherin – und sie ist die Witwe des Naturschutzaktivisten und geistigen Vaters des Ökodorfs Brodowin Reimar Gilsenbach.

Und während sie um ihren See führt, Nachtfalter aufsammelt und davon erzählt, dass sie sich hier ganz allein um die Hühner und Hunde kümmert und mit Gemüse selbst versorgt, da wird klar: Das Dorf Brodowin ist für viele, die hier leben, jenseits des großen Ökodorf-Betriebs auch ein utopischer Ort. Und schon lang ein Nest der Naturschützer. Und damit auch ein Nest des Widerstands, gegen das Gängige, gegen die Umweltverschmutzung.

Das war bereits zu DDR-Zeiten so, als es gegen die Parstein-Rallye rund um Brodowin ging. Veranstaltet vom Reifenkombinat Fürstenwalde fand sie im Frühjahr statt, wenn die Seeadler brüten und die Kraniche zurück sind. In den Achtzigern machten sowohl Hannelore als auch Reimar Gilsenbach Eingaben gegen das Rennen, sie wohnte noch in Eberswalde, er in Brodowin. Sie lernten sich kennen und schließlich blockierten sie und ihre Freunde mit Fahrrädern die Rallye. „Das hatten wir uns aus dem Westen abgeguckt“, schmunzelt Hannelore Gilsenbach bei einer Tasse Tee von selbstgeernteter Zitronenverbene.

Inzwischen sind wir in ihrem Wohnzimmer gelandet. Die Gitarre lehnt am Bücherregal, es gibt ein Klavier. Angelehnt an die berühmten Brodowiner Gespräche, die Reimar Gilsenbach 1981 ins Leben gerufen hatte, finden hier seit 2005 die Neuen Brodowiner Gespräche statt. Volker Braun hat hier gelesen, Christoph Hein. Auf dem Tisch liegen Kassetten mit Songs von ihr und ihrem Mann, mit denen sie durch die Kirchen und Kulturhäuser der untergehenden DDR tourten.

Hannelore Gilsenbach über die Anfängenach der Wende in Brodowin: "Es war schon ein ganz besonderer Aufbruchsgeist damals"

Gefährdete Kulturen

Auf Hannelore Gilsenbachs Tisch liegen aber auch Ausgaben ihrer Zeitschrift Bumerang, „für gefährdete Kulturen“, die 1994 bis 2010 erschien. Es ist wohl kein Zufall, dass sich Gilsenbach ausgerechnet dann aufs Naturverständnis anderer Völker stürzte, als sie – auch mit der Überführung von der Genossenschaft in eine GmbH – feststellen musste, dass Brodowin nicht zu dem Ort wurde, den sie lieber gehabt hätte: Ein Dorf, in dem alle an einem Strang ziehen. Ein Dorf möglicherweise, wie sie es sich in einer besseren DDR hätte vorstellen können. Nicht in einer BRD mit dem steten Gerangel um mehr Gewinn.

Hannelore Gilsenbach weiß aber zu schätzen, was mithilfe des Ökodorfs aus der Natur in und um Brodowin geworden ist. Dass dort allerdings nach anthroposophischer Schule Hörner vergraben werden? „Rudolf Steiner im Original zu lesen ist ein Erlebnis“, spottet sie.

Hannelore Gilsenbach ist eine gute Adresse, wenn man etwas über die Geschichte, den Geist Brodowins über den Ökodorf-Betrieb hinaus erfahren will. Andere gute Adressen sind die vier Demeter-Betriebe, die es in Brodowin auch noch gibt. Einer davon ist der Hof Schwalbennest und wird von Martina Bressel und ihrem Mann betrieben. „Wir haben hier die größte biologisch-dynamische Fläche, davon profitieren wir alle – auch meine Bienen“, sagt sie.

Bei der Gründung des großen Betriebs als Genossenschaft war sie dabei. Die gelernte Demeter-Landwirtin kam nach der Wende aus Nordhessen in den Osten. Vieles, was sie damals in Brodowin als Leiterin des Kuhstalls der damaligen Genossenschaft einführte, hat sie auf dem eigenen Hof weitergeführt. Gemeinsamkeit pflegt sie seither mit ihren fünf Kindern und ihrem Mann, der seit 40 Jahren in Brodowin lebt und bereits in der LPG dort gearbeitet hat.

Anders als auf dem großen Ökodorf-Hof ist die Milchwirtschaft bei Bressels muttergebunden, auch wenn dies nicht in den Richtlinien von Demeter steht. Aber den Kühen geht es am besten, sagt die Bäuerin, wenn man die Kälber erst nach zwei oder drei Monaten und dann auch nur nachts von den Müttern trennt.

So werden die Kühe nur einmal morgens gemolken, und dann kommen sie jeden Tag im Jahr gemeinsam mit ihren Kälbern auf die Weide. Sonst kriegen sie nur Rüben und Heu. Auf diese Art melken die Bressels pro Kuh nur mehr die Hälfte der Milch, die Ludolf von Maltzan auf dem Ökodorf-Hof erwirtschaften kann.

Viel gearbeitet haben die Bressels, viel Kraft brauchen sie auch heute noch mit ihren über fünfzig und über siebzig Jahren. Leben können sie mit den fünf Rindern, drei Schweinen, 50 Schafen und dem Federvieh gerade nur so. Glücklich sind sie trotzdem, sagt die Bäuerin.

Landleben mit Kraftfutter

Es mag romantisch, ja weltfremd sein, so arbeiten zu wollen wie die Bressels. Konzepte wie ihre gehören jedoch zum Dorf Brodowin dazu. Genauso wie der Großbetrieb im Ort.

Inzwischen ist es Nachmittag geworden dort auf dem großen Hof. Man spürt, wie nüchtern hier gerechnet wird. Die mutterlosen Kälbchen kuscheln in großen Plastikboxen miteinander. Gegenüber schieben riesige Traktoren das Gras so zusammen, dass es zu Silage ­vergären kann – ein Kraft­futter für besseren Milchertrag, das auch Biosoja aus China ­enthält.

In den Körben vor dem Hofladen liegt unter anderem Ananas aus Elfenbeinküste. Im Laden wird gerade Milch für eine Familie aus Berlin geschäumt. Die Kinder sollen auch einmal das echte Landleben sehen.

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