Alles über Afrika

KUNST Straße der Nachtvögel oder Objekte im Alltag: Dass die afrikanische Fotoszene boomt, dokumentieren neue Bildbände

Youssef Lahrichi: „Reveries urbaines“ (2014) Foto: Kehrer Verlag

von Brigitte Werneburg

Straßenfotografie? Hier gibt es sie noch. Es ist ja erstaunlich, in Zeiten, in denen die Leute über das Netz ihre dümmsten und intimsten Fotografien der ganzen Welt zugänglich machen, reagieren die gleichen Leute merkwürdig pingelig, werden sie auf der Straße fotografiert. Da müssen sie verpixelt und ihr Recht am Bild muss gewahrt werden. Aber noch gibt es einen glücklichen Kontinent, auf dem derlei Unsinn keine Chance hat, dafür aber der vife Fotograf: Afrika.

Straße der Nachtvögel

Der italienische Fotojournalist Michele Sibiloni ist ein solcher Fotograf, wobei ihn die Straße der Nachtvögel interessiert, denen er dann auch bis in die Bars, Clubs und privaten Partys folgt, in Kabalagala, dem Vergnügungsviertel von Kampala in Uganda, wo er von Oktober 2012 bis Januar 2014 unterwegs war. Unter dem Titel „Fuck It“ (nach dem Tattoo einer jungen Prostituierten namens Sandra) sind die dort entstandenen Bilder jetzt kommentarlos bei Patrick Frey erschienen.

Ein Film noir in jeder Hinsicht, zu dem auf dem ersten Bild ein städtischer Krieger mit Pfeil und Bogen zu Poolpartys einlädt und in die Clubs, wo Sicherheitsleute und Taxifahrer, Prostituierte, Entwicklungshelfer, Zuhälter, Straßenkinder und wasserstoffblonde Schönheiten zusammentreffen.

Michele Sibiloni: „Fuck it“. Edition Patrick Frey, Zürich 2016, 128 Seiten, 66 Farbabb., 43 Euro

Eine Woche Alltag in Lagos

Weitgehend kommentarlos ist auch der knapp 500 Seiten starke Bildband „Africa Under the Prism“, ein Kompendium der zeitgenössischen afrikanischen Fotografie, wie sie das Lagos­Photo Festival seit 2010 vorstellt. Damals lautete das Motto „No Judgement: Africa Under the Prism“ und es waren 25 Fotografen vertreten. Im darauffolgenden Jahr zählte man schon 41, die fragten „What’s Next Afrika? The Hidden Stories“, die dann vom meistenteils unbekannten, guten Leben in Afrika handelten.

Ein Jahr später, 2012, kamen „Seven Days in the Life of Lagos“ zur Darstellung. Das Fotofestival selbst, zentraler Faktor im aufblühenden Kunstgeschehen der Stadt, dauert einen ganzen Monat. Wie ambitioniert man ist, darüber hinaus wahrgenommen zu werden, zeigt sich daran, dass das Festival sich nicht nur an afrikanische Fotografen wendet. Mit den internationalen Fotografen, die nicht dem afrikanischen Kontext entstammen, aber in ihm arbeiten, soll ein Dialog entstehen.

„The Megacity and the Non-City“, 2013, vertiefte die visuelle Untersuchung städtischen afrikanischen Lebens. Und 2014 traten Fotojournalismus und die Dokumentation in den Hintergrund und unter dem Titel „Staging Reality, Documenting Fiction“ hatte die konzeptuelle Fotografie das Sagen. Leider ist zu den Bildermachern selbst im Band nichts zu erfahren. Es lohnt sich deshalb, sie im Netz aufzuspüren, denn tatsächlich werden die Bilder oft sehr viel verständlicher, wenn man weiß, wo ihre MacherInnen ausgebildet wurden, wo und in welcher Funktion sie arbeiten und wo sie leben.

„Africa Under the Prism. Contemporary African Photography from LagosPhoto Festival“. Hg. Azu Nwagbogu u. v. a., Hatje Cantz Verlag 2015, 488 S., ­382 Illust., 45 Euro

Furcht und Fotografie in Bamako

Anders als das LagosPhoto Festival ist die 1994 gegründete afrikanische Biennale der Fotografie, Rencontres de Bamako genannt, längst weltweit bekannt. Nachdem die Biennale wegen Kämpfen mit den Tuareg, denen Auseinandersetzungen mit islamistischen Gruppen folgten, 2013 abgesagt werden musste, feierte das Festival mit seiner 10. Ausgabe 2015 ein großes Comeback.

Dass dies ein Zeichen neuer Stabilität sein könnte, erwies sich gleichwohl als trügerisch. Drei Wochen nach dem Start überfielen Islamisten das Radisson Blu Hotel und töteten mehr als 20 Menschen. Das ist der traurige Hintergrund des fast 500 Seiten starken, vorbildlich aufgebauten Katalogs, der beim Kehrer Verlag erscheint. Die ersten 250 Seiten stellen die Teilnehmer der Exposition Internationale im Nationalmuseum von Mali mit ihren Bildern und erläuterndem Text vor.

Hier sind reichlich Entdeckungen zu machen. Eine jüngere, ab den 1980er Jahren geborene Generation macht zum Beispiel intelligenten Gebrauch von fiktionalen und dokumentarischen Aspekten und weiß dabei Hollywood ebenso wie Le Corbusier und die Charta von Athen im afrikanischen Alltag zu positionieren. Weitere Kapitel sind dann einzelnen Künstlern gewidmet oder sie schauen wie der Focus Lusophone auf die portugiesisch sprechenden afrikanischen Länder, aber auch Brasilien und Portugal selbst. Workshops werden vorgestellt und Mali noch einmal besonders beachtet. Dazu kommt eine Chronologie der zehn Biennalen. Selten erfährt man so kompakt so viel über die afrikanische Fotoszene.

Sibiloni porträtiert das Vergnügungsviertel in Kampala, Uganda Foto: Michele Sibiloni/Edition Patrick Frey

„Rencontres de Bamako Biennale Africaine de la Photographie, 10ème édition, Telling Time“. Hg. Antawan I. Byrd, Bisi Silva, Yves Chatap. Kehrer Verlag, Heidelberg 2015, 488 S., 273 Farb-, 34 Duoton- und 10 S/W-Abb., 39,90 Euro

Goldener Löwe in Venedig

Zur afrikanischen Fotoszene gehört Edson Chagas. 1977 in Luanda geboren, studierte er in London und Newport Fotografie, arbeitete als Bildredakteur der angolanischen Zeitung Expensão, wo er seinen konzeptuellen Ansatz entwickelte. 2013 wählten die Kuratoren von Be­yond Entropy sein Projekt „Found Not Taken“ für den angolanischen Pavillon aus, der prompt den Goldenen Löwen für den besten Pavillon gewann. In Venedig waren nur die Bilder aus Luanda zu sehen.

Der Band „Found not Taken“ zeigt nun auch die in London und Newport aufgenommen Bilder, die alle eint, dass vor einer Wand ein Gegenstand zu sehen ist, wobei vor allem zu sehen ist, wie der Gegenstand mit dem Raum interagiert. Etwa der umgeknickte schwarze Papierkorb, der auf beigem Beton vor einem orange gestrichenen Wandsockel und der darüber sichtbaren beigen Waschbetonwand steht. Oder das graue Rohr auf hellem Sand vor blauer Wand oder die kaputte Satellitenschüssel vor einer weißen Wand mit zwei Lamellenfenstern.

Manchmal findet Chagas, der als seine große künstlerische Bezugsgröße Carl Andre nennt, den Gegenstand am richtigen Ort für eine Aufnahme, manchmal verrückt er ihn aber auch ein wenig, und das können dann zwei Meter oder auch zwei Kilometer sein.

Edson Chagas: „Found Not Taken“. Kehrer Verlag, Heidelberg 2015, 116 S., 46 Farbabb., 39,90 E uro