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Als sei ihnen ein heiliger Geist erschienen

Moers Jazz Festival Vielfältig und mit politischem Bewusstsein: Auf dem gut besuchten Moers Festival kann man sehen und hören, was Jazz 2016 bedeutet

Es war ein Schock, als es vor ein paar Monaten hieß, das Festival sei insolvent

Es ist ein Fest der Erotik, wie Brandon Ross seine Gitarre streichelt und kratzt, wie J. T. Lewis sein Schlagzeug vibrieren lässt, wie Melvin Gibbs seinen Bass umschlingt und Cassandra Wilson ins Mikrofon haucht, als sei es die Ohrmuschel einer geliebten Person. Guter Jazz: Das ist auch die Symbiose mit dem Instrument, die Sprache der Körper, das ist vor allem: Spannung und Entspannung.

Die erotische Beziehung zum Instrument dabei zugleich ambivalent zu halten, das beherrschen nur wenige so gut wie das US-Quartett Black Sun, eine Kooperation des Harriet Tubman Trios und der Sängerin Wilson, die am Samstagabend des Moers Jazz Festivals spielen. Ambivalent, weil die Musiker gekonnt Ästhetisches mit Politischem verschalten. Denn das Trio – benannt nach der Fluchthelferin, die Sklaven während des Sezessionskriegs bei der Flucht aus den Südstaaten in den Norden half – widmet sich der Aufarbeitung afroamerikanischer Geschichte. Ross, der gelegentlich zum Banjo griff, betonte etwa, dass das für weißen Country bekannte Instrument ursprünglich aus Afrika stammt.

Wilson, die vom Time Magazine zur besten Sängerin der Welt gekürt wurde, gab sich von einer unprätentiösen, ziemlich coolen Seite. Wie sie da lauernd über die Bühne schreitet und beiläufig am Mikrofon vorbeigeht, um ihre Stimme, mal hauchend, mal opernhaft, durch die Halle schweben zu lassen.

Musik inklusive kritischer Auseinandersetzung mit der Geschichte war schon immer ein Leitmotiv in Moers, wo seit 44 Jahren das wichtigste Treffen für avantgardistische Musik stattfindet. In den 70ern haben hier Größen wie Archie Shepp oder Anthony Braxton gespielt, heute reist die internationale Speerspitze der experimentellen Musik an.

Auch in sozialer Hinsicht ist Moers Avantgarde. Bis heute treffen sich dort nicht nur die wandelnden Jazz-Lexika in abgewetzten Sakkos, sondern auch Musik-Hipster, Elektronik-Nerds und Metalfans. Der Anspruch, dabei nicht elitär zu sein, zeigt sich etwa bei den „morning sessions“, bei denen einige Musiker zur Improvisation auf kleinen Bühnen zusammenkommen. Da sie kostenlos sind, ziehen sie auch Interessierte aus Moers und der Region an.

Moers eignet sich gut für eine Bestandsaufnahme. Jazz ist 2016 so offen und hybrid wie nie zuvor. Das lässt sich gut anhand der Musiker-Physiognomien studieren. Am Schlagzeug gibt es nicht nur die von polyrhythmischer Rechenleistung gezeichnete Schnappatmung im Art-Blakey-Stil wie beim Belgier Teun Verbruggen, sondern auch die immer etwas peinlich wirkenden Zähneblecker wie Matthias Bossi. Bei den Bläsern gibt es nicht mehr nur die ultracoolen Stoiker wie die Saxofonistin Silke Eberhard, sondern auch Ausdruckstänzer wie den Saxofonisten Wenzl McGowen. Nicht zuletzt die SängerInnen, die in den Himmel schauen, als sei ihnen ein heiliger Geist erschienen.

Die Vielfalt des Jazz ließ sich auch an den Spielweisen ablesen. Was für die einen expressive Emotionalität ist, erscheint anderen als Mangel an reflexiver Implosionsfähigkeit. So zeigte das Trio Medusa Beats athletisches Powerplay, während Dawn of Midi aus Brooklyn mit ihrer an elektronischer Musik geschulten Ästhetik ganz anders funktionierte. Ihre Körper schienen wie programmiert, als sie da minutenlang immer wieder die gleichen Muster spielten, bis alles in einem endlos-schönen Drum-Piano-Kontrabass-Loop aufging.

Doch es ging nicht nur um die Politik der Ästhetik. Neben Rassismus wurden Genderthemen oder die xenophobe Regression Europas verhandelt. Während das Berliner Trio The Liz, bestehend aus Liz Kosack, Liz Allbee und dem queeren Elektroniker Korhan Erel in einer postmodernen Jazz-Drone-Oper kritische Identitätsfragen stellte, spielte die Tim Isfort Band ein Cover von „New Dark Age“ der Post-Punk-Band The Sound. Der Titel passe gut in eine Zeit, in der sich viele von ihren Ängsten leiten ließen, meint Isfort.

Angesichts seiner kulturellen Relevanz war es ein Schock, als es vor ein paar Monaten hieß, das Festival sei insolvent. Obwohl es dieses Jahr mit 12.000 Zuschauern besser besucht war als in den Jahren zuvor, kündigte der künstlerische Leiter Reiner Michalke seinen Rücktritt an. Ihm fehle der Rückhalt der Stadt, er wolle den Weg „freimachen für eine ergebnisoffene Diskussion über das Festival“.

Ein Festival, das seit jeher so stilsicher in die Zukunft blickt, und dabei so inklusiv ist wie kaum ein anderes – für Geflüchtete und Kinder ist der Eintritt frei –, darf in einer von Konsumzwang geprägten Eventgesellschaft nicht fehlen.

Philipp Rhensius

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