Vetements und Diptyque Gernot Böhme analysiert die Ausweitung des Begehrensals kapitalistische Kampfzone
: Die Sache mit dem Begehren

Kürzlich fuhr ein Bus durch Norwegen. Alle Plätze belegt: Ein Blogger aus Japan, ein YouTuber aus Italien, ein snapchattendes Mutter-Tochter-Paar. Ein Fotograf, der Influencer genannt wurde. Sie alle waren eingeflogen worden, weil ein Musiker sein neues Album vorstellen wollte und die ganze Welt zusehen sollte. „Hier sitzen 3 Millionen Follower im Bus, die sehen, was wir posten“, sagte der Fotograf und erzählte, dass er durchschnittlich 3.000 Euro von einer Firma bekommt, wenn er ein Foto auf seinem Instagram-Account hochlädt, das Inhalte ebendieser Firma integriert.

Von dieser neueren Form des Marketings, den neuen Berufsbildern schreibt der Philosoph Gernot Böhme in seinem Buch „Ästhetischer Kapitalismus“ nicht. Aber sie kommen einem schnell in den Sinn.

„Ästhetische Ökonomie bedeutet, dass der Inszenierungswert der Waren im Gebrauchszusammenhang weitgehend darin besteht, eine Person, einen Lifestyle, eine Gruppen- und Schichtzugehörigkeit zu inszenieren.“ Mit Inszenierungswert meint er, dass den Waren ein Wert beigegeben werde, der über den Tauschwert hinausgeht. Sie repräsentieren einen Lifestyle, sie inszenieren Leben.

In der sogenannten Überflussgesellschaft setzt der Kapitalismus auf unsere Begehrnisse, um weiteres Wachstum zu sichern. Denn Begehrnisse sind nicht so leicht zu stillen wie Hunger und Durst. Das Begehren wird dabei von uns angefeuert. Wir machen die Werbung selbst. Auf Instagram präsentieren wir unsere Kleider, auf Snapchat unser Haus, in dem wir alles ausstellen, was uns ausmacht. Die meisten machen das umsonst, die Leute, die im Bus nach Norwegen sitzen, bekommen Geld dafür.

Stupide „Haben wollen!“-Kommentare unter Facebook-Posts und Instagram-Bilder sind der moderne Ausdruck dessen, was Böhme als Begehrnis beschreibt. „Die meisten Güter, die wir kaufen, sind heute nicht zum Gebrauch, sondern zur Ausstattung des Lebens gedacht.“ Brauche ich dieses Sofa, um darauf zu sitzen oder um es meinem Besuch vorzuführen? Benutze ich einen Apple-Rechner, weil er so praktisch ist oder weil er mich zum Teil der digitalen Boheme macht?

„Die ästhetische Ökonomie impliziert nun eine Wiederkehr des Geschmacks als sozialer Distinktionsstrategie“, analysiert Böhme weiter. Adidas oder Nike, vegan oder nicht, Vetements kaufen oder wegschmeißen: Das ist der urbane Fulltimejob. Es seien die marginalen Gruppen, die zu modischen Trendsettern würden, schreibt Böhme. Und man denkt an YouTuberin Bibi, die aus Scheiße Gold macht.

Treffend bei ihr ebenfalls: Ein Beispiel für ein typisches Begehrnis sei das Begehren, gesehen zu werden, so Böhme, an dem deswegen auch „ein Großteil der immer wachsenden Bildindustrie hängt“. Und er muss damit die neuzeitlichen Social-Media-Stars meinen, die auch exemplarisch für das Problem mit der Unstillbarkeit von Begehren stehen. „Wer gesehen wird, möchte noch sichtbarer werden.“ Wer sich einmal einen Designklassiker kauft, braucht unbedingt auch die nächsten.

Der Konsum könne zu Leistung werden, schreibt Böhme weiter, und der dadurch entstehende Leistungsdruck werde heute von uns meist einfach so hingenommen, aus Angst, es könnte bessere Mitarbeiter, Freunde, Geliebte geben als uns. Er beschreibt ein „Unbehagen im Wohlstand“ – niemand ist zufrieden, weil ein Mehr immer möglich ist.

Was rät Böhme? Der Mensch „muss durch eine Haushaltung seiner Bedürfnisse seine Souveränität gegenüber dem Wirtschaftssystem zurückgewinnen“. Man solle die „Transformation von Bedürfnissen in Begehrnisse im eigenen Gefühlshaushalt nicht zulassen.“ Nicht in den Bus steigen. So etwas wäre ein Anfang. Laura E. Ewert

Gernot Böhme: „Ästhetischer Kapitalismus“. Suhrkamp, Berlin 2016, 160 Seiten, 14 Euro