Akribische Erschließung der Welt: Daniela Comanis „Ich war’s. Tagebuch 1900-1999“ und die Installation „Redepausen im Frankfurter Auschwitzprozess“ (unten) von Sigrid Sigurdsson und Gunnar Brandt-Sigurdsson Foto: Hayo Heye

Weltdeutende Text-Kunst

kunst Lesen Die Ausstellung „…und eine Welt noch“ im Kunsthaus Hamburg zeigt Werke von 40 KünstlerInnen, die sich die Welt durch eigene Systeme erschließen. Die Referenzen an die Konzeptkunst der 70er-Jahre sind unübersehbar; der Kanon der Konzepte wird zitiert und variiert

Von Hajo Schiff

In einem feingezeichneten Tortendiagramm mit 365 Segmenten erfasst der Hamburger Künstler Nick Kopenhagen täglich das Wetter und seine Stimmung. Das dazu gewählte Farbsystem ist eine seltsame Mischung von objektiven Daten und abwegigen Kriterien. Die erstaunlich schönen Blätter zeigen eine etwas andere Jahreswahrnehmung als gemeinhin üblich.

Solche zugleich akribischen und ungewöhnlichen Erschließungssysteme der Eigen-Welt sind allen über 40 zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern gemeinsam, die die künstlerische Leiterin Katja Schroe­der und die Kuratorin Miriam Schoof im Kunsthaus Hamburg zusammengetragen haben. Referenzpunkt dabei ist die renommierte Hamburger Künstlerin Hanne Darboven (1941 – 2009) mit ihren subjektiven, geradezu manischen Schreibsystemen.

Zeichnung und Fotografie sind die wesentlichen Medien dieses Versuchs zur Neuanordnung des Wissens in individuellen Enzyklopädien. Das ergibt keine schnelle Kunst, mehr eine Leseausstellung. Auch Dichter wie Arno Schmidt und die Filmemacherin Ulrike Ottinger sind vertreten. „Learn to read Art“ heißt es in der Vitrine von Textkünstler Lawrence Weiner und die Besucher erhalten ein 14-seitiges Handout zur Erklärung des durch Sehen allein nicht vollständig Erschließbaren.

Weht seit Langem mal wieder ein Hauch von Intellektualität durch den Raum, wie der Kunsttheoretiker Laszlo Glozer bemerkte, oder ist das alles hier eher hirnwütig und hermetisch? „Wie nah wohl zuweilen unsere Gedanken an einer großen Entdeckung hinstreichen mögen“ hat der große deutsche Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg einst gefragt. Und wie nahe am Wahn!, wäre ein boshafter Einwurf angesichts so vieler hier ausgebreiteter individueller Weltsysteme.

Die Referenzen andie wichtige und schätzenzwerte Konzeptkunst der 70er-Jahre erscheinen manchmal etwas manieriert

Jedenfalls scheinen die Referenzen an die wichtige und schätzenzwerte Konzeptkunst der 70er-Jahre manchmal etwas manieriert. Denn so wie es einst kaum mehr möglich schien, nach Raffael und Michelangelo noch Großes zu malen und die folgende Generation der Manieristen sich in individuelle Stilkapriolen rettete, so wird hier der inzwischen klassische Kanon der Konzepte nur noch zitiert und variiert: Subjektive Reihung und selbstgesetzte Regeln, durch Zahlen oder Zeiten gesteuerter Zufall, Hervorkehren des Hintergründigen, des Zwischenraums und der Rückseite der Systeme, Aufwertung des Abfalls, Gewinnung immer neuer Möglichkeiten durch Kombinatorik und Permutation. Und bei alledem kann jedwede Form von Notation nicht nur als Geheimnisse offenbarende apokryphe Schrift verstanden werden, sondern auch als unerhörte Musik.

In Sigrid Sigurdssons Video über den ersten Auschwitz-Prozess in Frankfurt sind nur die An- und Auslaute der Worte als Nachhall im Raum zu hören, das Räuspern, Luftholen und die Nebengeräusche ergeben einen kläglichen Rhythmus. Die Zwischenräume bilden die möglicherweise einzigen ganz objektiven Momente dieser schrecklichen Aussagen.

Unpolitisch und oder weltabgewandt ist die überall demonstrierte Subjektivität nicht: In den Vitrinen finden sich Verweise auf den Massenmord an den Armeniern oder die tagebuchartige Übernahme großer Weltereignisse als selbsterlebt und absurderweise selbstgemacht; in oft schwer lesbaren Collagen und Notizen finden sich Bezüge auf Walter Benjamin, James Joyce und Aby Warburg.

Der aus Benin stammende Georges Adeagbo erzählt nicht nur Geschichten durch die bloße Kombination von Objekten, er hat den von Alfredo Jaar gesetzten Neon-Schriftzug KULTUR=KAPITAL ins Französische und in seine Handschrift übersetzt. Immer wieder geht es so um die Subjektivierung der Welten. Lässt sich aus so vielen verschiedenen Zugängen noch so etwas wie Realität gewinnen?

Banu Cennetoğlu hat in ihrer Installation auf elf Tischen mit je sechs schwarzgebundenen Bänden alle deutschen Tageszeitungen vom 11. August 2015 ausgelegt: Auch was jedem Leser in seinem Blatt als objektiv aktuell serviert wird, zeigt sich als eine eher subjektive Auswahl.

Am Ende bleibt die Beschwörung des Augenblicks im 2.244-fach geschriebenen Wort „now“ bei Jorinde Voight oder das „Work No. 867“ von Martin Creed: Es ist ein auf einem Sockel unter Glas präsentiertes zusammengeknülltes Blatt Papier. Klar dass diese oft philosophierende Kunst auch ihr eigenes Scheitern thematisiert.

„… und eine Welt noch“, Kunsthaus Hamburg, bis 26. Juni