der rote faden : Eingeliefert ist man ausgeliefert, auch den Medien der anderen
durch die woche mit
Nina Apin
Es soll Menschen geben, die dafür bezahlen, dass man sie vom digitalen Nachrichtenstrom abklemmt. „Digital Detox“ nennt sich das Geschäftsmodell, das Kunden ein paar Stunden Erholung verspricht. Keine Nachrichten, keine Anrufe, keine Kalendererinnerungen. Ist bestimmt pädagogisch sinnvoll und erzeugt gute Gefühle.
So ein Klinikaufenthalt über Pfingsten ist da genau das Gegenteil. Die Änderung des eigenen Medienverhaltens ist ebenso komplett und sogar kostenlos. Dafür aber alles andere als selbst gewählt. Wer sich als gesunde Begleitperson eines kranken Kindes einweisen lässt, nimmt an einer Art medialem „Frauentausch“-Format teil: Zwangsweise taucht man für ein paar Tage in die Mediengewohnheiten anderer Milieus ein. In dem Moment, da sich mit leisem Surren die Automatiktüren schließen, ist ein Ballern auf allen Kanälen angesagt. Der Handyempfang auf der Station ist tadellos, das Internet geht auch. Die Zeiten, in denen im Krankenzimmer nur geflüstert wurde und man fürs Telefonieren schräg angeschaut wurde, sind definitiv vorbei. Exzessives Daddeln, Wischen und Klicken scheinen das Klönen und Auf-dem-Gang-Umherschleichen ersetzt zu haben.
In der Kinderklinik flimmern in jedem Patientenzimmer zwei Monitore, auf denen in Dauerschleife Nickelodeon-Cartoons laufen. In unserem Vierbettzimmer liegt ein Zehnjähriger mit gebrochenem Bein, der versucht, gleichzeitig auf dem Tablet zu spielen, mit einem Auge „Transformers“ zu gucken – und sich gleichzeitig in die Skype-Konversation mit Oma einzuklinken, die seine Mutter am Bettrand führt.
Von wegen Digital Detox. Neben dem Beinbruch liegt ein Fußballverunfallter, der fürchterlich weint – weil er mit gebrochenem Arm das Smartphone so schlecht halten kann. Und der Junge mit dem Blinddarmdurchbruch hat sich in eine Art Trance hineingeglotzt. Regungslos lässt er sich beflimmern, während seine Mutter manisch ins Handy tippt. All das Geflimmer und Geklacker ist gespenstisch leise. Die Kinder und ihre Begleitpersonen sind in der Unterhaltungsmaschine verschwunden wie unter Saugglocken.
In der Aufenthaltshalle der Klinik, wo es neben Kaffee auch einen Automaten für Fernsehkopfhörer gibt, laufen gesponserte Schlagzeilen über den Monitor, im Kiosk gibt es die Bild, die Welt und Mega Bulmaca. Nach drei Tagen ist die Transformation meines Medienverhaltens fast abgeschlossen: Das Tief der SPD und die Bundespräsidentenwahl in Österreich werden mir immer egaler, je länger ich auf die Krankenschwester mit dem verdammten Schmerzmittel warte.
Wie ein Atavismus, ein Relikt aus früheren Zeiten ragt Paul Masons Theoriewälzer „Postkapitalismus“ aus meiner Tasche. Ich hätte mir besser mal Foucaults „Geburt der Klinik“ einpacken sollen, um den Zustand der Unterordnung unter die geheimnisvollen Abläufe des Klinikkosmos wenigstens richtig auskosten zu können.
So reicht es nur zur aus der Langeweile geborenen soziologischen Schmalspuranalyse. Angenommen, die Kinderklinik eines staatlichen Berliner Krankenhauses kann einen gewissen Aussagewert über den Querschnitt einer Gesellschaft liefern – alle, die Kinder haben, landen hier, wenn es blöd läuft –, dann ist diese Gesellschaft überraschend vielfältig. Und höflich. Auf der Station begegnen sich Familien aus China, Griechenland, der Türkei, Serbien und Russland. Biokids mit teurer Markenkleidung und Dinkelkeks in der Hand liegen neben Kindern, die von ihren Müttern mit „Halt Klappe, Alta“ angeredet werden.
Die Klinikatmosphäre lässt wenig Raum für kulturelle oder soziale Konflikte: Alle warten auf die Visite oder die nächste Untersuchung, alle meckern übers Essen, alle hoffen auf die Gesundung ihrer Kinder.
In unserem Vierbettzimmer liegen eine armenische Lehrerin aus Syrien und eine Hausfrau aus dem Nordirak nebeneinander. Der Sohn der einen kriegt die Menüvariante Schweinefleisch, der der anderen Halal. Aus dem Dekolleté der einen baumelt ein silbernes Kreuz, über dem Busen der anderen blitzt ein zweischneidiges Schwert. Sie seien Aleviten, erklärt ihr Sohn, als er kurz einmal von seinem Ballerspiel aufschaut. Das Arabisch der beiden klingt verschieden, weich das syrische, viel härter das irakische. Die Sprachmelodie steigert sich, wird erregter, ich höre die Worte Daesh und Dschihad heraus. Die beiden gehen zum Rauchen raus.
Gerade nehme ich das Smartphone in die Hand, da sagt mein Sohn: „Mama, mach endlich den Fernseher aus, ich will jetzt endlich mal wieder ein Buch lesen.“
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