piwik no script img

Digitale Glatzenüberkämmer

ALTERN Die Re:Publica hat ihre diesjährige Lieblings-App gefunden: Snapchat. Pech für Jugendliche, die den Dienst mögen

Darauf stehen die jungen Leute: das Snapchat-Gespenst Foto: snapchat

Zehn Minuten lang erklärt Jo­shua Arntzen, wie Snapchat funktioniert und wofür er es nutzt. 500 Menschen, die meisten mindestens doppelt so alt wie er, schauen dem 14-jährigen Schüler aus Hamburg auf der Re:Publica zu. „Schön, dass ihr jetzt alle wisst, was Snapchat ist. Aber benutzt es bitte trotzdem nicht“, sagt Arntzen zum Abschluss.

Facebook haben die Alten seiner Generation schon verleidet – weil plötzlich alles von Erwachsenen zugemüllt war, Eltern und Lehrer sich mit ihnen befreundeten. Es war vorbei mit unbeobachteter Kommunikation unter Gleichaltrigen.

Trotz Arntzens Bitte ist Snapchat in diesem Jahr der Lieblingsdienst der Irgendwas-mit-Internet-Konferenz. Seit 2011 gibt es den chaotischen Foto-Chatnachrichtendienst mit eingebautem Selbstzerstörungsmechanismus für Inhalte. Es hat eine Weile gedauert, bis klar wurde, dass es das neue Ding ist unter Jugendlichen.

Vermarkter und Inhaltemacher spüren, wie die Hipness auf Facebook langsam, aber sicher austrocknet. Auch ein Stockwerk weiter unten bieten Jugendliche Schulungen an. Es gibt Veranstaltungen für Ultra-Snapchatter und Tipps für Organisationen und Werber.

Kahl? Egal!

Digitale Glatzenüberkämmer – diesen Begriff hat Kathrin Passig bereits 2009 erfunden. Für Menschen, die an ihrem vor Jahren geprägten digitalen Weltbild festhalten, ohne zu merken, dass sich die Dinge rasant weiterentwickelt haben. Demnach sehe man im Spiegel aus wie immer – aber alle anderen könnten deutlich erkennen, dass es nur noch drei über den Kahlkopf gelegte Haare seien. Die Re:Publica findet zum zehnten mal statt. Die meisten Besucher und prägenden Köpfe sindmitgealtert. Bauchansatz und Graumeliertes allerorten. Und doch wollen diese Menschen ihre digitale Glatze kaschieren. Weil irgendwo steht: Wer Snapchat nicht versteht, hat keine Ahnung von digitalem Marketing.

Arntzen antwortet geduldig auf all die Fragen der Berufsjugendlichen. Sei ihm Snapchat nicht zu nervös? Wie könnten Marken dort an ihn rankommen? Sei es nicht gruselig, all seine Kommunikation über eine Firma zu führen?

Die Re:Publicaner fragten, als könnten sie sich nicht selbst erinnern, wie damals die Alten über die kurzen Schnitte auf MTV meckerten.

Zack, weg mit dem Inhalt

Auf Zeit Onlinewarnt Patrick Beuth, dass marodierende ­Horden Uncooler und Berufsnutzer ansetzen, den Jugendlichen auch Snapchat zu versauen. Ihnen geht es um Aufmerksamkeit in der werberelevanten Zielgruppe. Ein bisschen lustig, schreibt Beuth, „in einem Netzwerk, das euch Aufmerksamkeitsspannen jenseits von ein paar Sekunden abtrainiert“.

Angucken, Unsinn machen, Face-Swap und zack, weg mit dem Inhalt. Das macht Sinn und Attraktivität von Snapchat aus.

Weswegen es natürlich tantig und onkelig ist, Witze darüber zu machen, dass man sich zu alt fühle für Snapchat. Das sei wie zu sagen, dass man keinen Fernseher habe, schreibt wer unter dem Re:Publica-Hashtag auf Twitter – während andere Unternehmen und Medienhäuser verkünden, dass sie jetzt auch angefangen hätten.

Internet-Eminenz Sascha Lobo (40) konstruierte mal wieder ein neues Wir: „Wir halten uns für eine digitale Avantgarde, weil wir noch viel früher als alle anderen Snapchat nicht verstanden haben“, sagte der Mann, der in grauer Social-Media-Vorzeit wahrscheinlich der einflussreichste Twitterer Deutschlands war. Und wünscht sich ein Snapchat für Erwachsene.

In Würde altern, das kann halt nicht jeder. MEIKE LAAF

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen