Im Anwohnerpark

Teil 33: Wenn die Sonne hinter den Dächern versinkt

Hat Fritze was in die Bowle getan?“

„Wie meinst´n dit?“

„Na schau dich mal kurz um.“

„Ohjott, wat macht denn die Blumenfrau da?“

Die vietnamesische Floristin war barfuß auf ihren Verkaufsstand vor der Kaufhalle geklettert. Zwei Verrenkungen später saß sie angehockt auf ihren Händen, lächelte und gab trötende Geräusche von sich. Schneller, als der Kranich fliegen kann, scharten sich staunende Passanten und Festbesucher um sie, kramten nach Kleingeld und reckten ihre Mobiltelefone in die Höhe: „Sensationell!“

Seit dem frühen Morgen strömten Besucherinnen durch die kleine Straße nordöstlich des Alexanderplatzes. Herausgeputzte Leute saßen auf Bänken, Kisten und Kästen in der Sonne, rund um die beiden Bühnen und improvisierten Ausschänke, denn das gesamte Areal zwischen Friedhof, Supermarkt, Turnhalle, Bioladen und blaulichtwar für die Dauer des Frühlingsfestes für Autos gesperrt. Am lautesten freuten sich die Kinder der Nachbarschaft darüber, die mit Rollern, Skateboards und Laufrädern über den Asphalt schossen, um die Hüpfburg vor der Turnhalle in Augenschein zu nehmen: „Los, um die Wette!“

„Warum muss immer einer gewinnen?“ Sprottenpeters Laune war im Keller. Er hatte sich zum Gespött der Leute gemacht. Aus Sparsamkeit. Dass es bei Kohlenanzünder solche Unterschiede gibt, wäre ihm nicht im Traum eingefallen. Kopfschüttelnd führte er Selbstgespräche, während er in der Glut stocherte, um die Hitze gleichmäßig zu halten.

Hildegard und Anne teilten sich einen Stand auf dem Trottoir vor ihren Läden. Unterstützt von Lale, ihrer besten Tresenkraft, zapfte die Wirtin des blaulicht Bier um Bier, schenkte schon vor Mittag erste Schnäpse aus und amüsierte sich über Sprottenpeter, der immer noch schimpfend mit dem Grill kämpfte. Zudem hatte sich bereits eine meterlange Schlange von Wurstliebhabern bis hinüber zum letzten unsanierten Haus gebildet.

Bioladeninhaberin Anne setzte dem auf ihrer Seite des Tisches eine duftende Palette aus gedünstetem Gemüse, Salaten, ihrer berühmten Bärlauchpaste und selbstgebackem Brot entgegen. Als großer Renner entpuppte sich auch die Holunderblütenbowle, die sie sowohl in Richtung der Wurstmenschen als auch der eigenen Kunden einschenkte. Geschickt dirigierte Anne die Schlange der Biokunden und Vegetarier von den Fleischfressern weg. Nicht, dass die sich noch kloppten! Der arme Lolle tat ihr furchtbar leid. Nun hatte sie endlich eine Aushilfskraft in ihm gefunden, und schon prasselten die hämischen Bemerkungen der blaulicht-Stammkundschaft nur so auf ihn ein. Anne stellte sich demonstrativ an Lolles Seite und zwinkerte Hildegard zu. So sehr sich die beiden Wirtinnen auch um friedliche Koexistenz bemühten: Sie freuten sich jetzt schon auf den Moment, wenn die säuberliche Trennung beider Hoheitsbereiche den Gästen wieder Halt und Bestätigung geben würden.

„Hildegaaaaaard!“ Mit freiem Oberkörper und weit ausgebreiteten Armen stürzte der Gegenübernachbar auf die blaulicht-Chefin zu, schlug rotierend eine Schneise in die Schlange, blieb vor der Angebeteten stehen, ließ seine Hände wie Kolibris flattern und schürzte die Lippen: „Tütü. Tütü. Tütüüüüüüüüüüü.“

„Mensch, der is aber hin!“, gickerten die Leute und Hildegard wandte sich intuitiv Fritze zu, der im Schatten des Haselnussbäumchens auf seinen Schachpartner wartete: „Fritze, warst du an der Bowle dran? Sei ehrlich!“

Fritze zog die Schultern zu den Ohren und machte ein unschuldiges Gesicht. Da erlöste ihn Heiner Müller, der nicht Heiner Müller war, von dem drohenden Kreuzverhör. „Tachschön.“ Die Partie konnte beginnen.

Die ersten Flüchtlingsfamilien waren bereits aus der Turnhalle in nahe gelegene Wohnungen gezogen. Die Frauen und Männer, die nun an Ständen rund um die Hüpfburg miteinander Tee tranken und redeten, blickten immer wieder erstaunt zu der juchzenden Meute, die unermüdlich sprang, lachte, wippte und auf ihre Hintern fiel. Eis, Konfetti, Luftballons und Rumgehoppse: Ein Kinderparadies. Zwischendurch hatte der Auftritt eines jungen Afghanen für Irritation gesorgt. Der schlaksige Lulatsch war grashüpfergleich die Straße entlang auf eine Mülltonne gesprungen und hatte sich fortan strikt geweigert, wieder herunterzukommen. Stattdessen krähte er Unverständliches zum wolkenlosen Himmel empor. Bis das ausgelassene Toben der Kinder seine Aufmerksamkeit zurück zur Erde lenken konnte. Die Zwerge in dem aufblasbaren Gummiding, das für sie eine Welt aus Bewegung war, nahmen den Grashüpfer als einen der ihren auf.

Das Fest verflog wie ein Rausch mit Freunden, ohne Krieg. Die ersten Autos begannen zu kreisen. Aus den Lautsprechern vorm blaulicht übertönte Pola Negris Nachtvogelstimme die verbliebene Gesellschaft: „Wenn die Sonne hinter den Dächern versinkt …“ Hildegard wollte sich gerade an Lale lehnen, da nahm die ihren Kopf zwischen ihre kalten Spülhände, zog sie zu sich heran und küsste ihre Chefin auf den Mund. Verblüfft drückte Anne den schüchternen Lolle an ihre Schulter und rief: „Wenn Oma Heinrich mal tot ist, dann sind wir reich.“ Gemeinsam erhoben sie ihre Gläser auf die abwesende Nachbarin. Von einem Foto an der Bar lächelte Robert Heinrich, der Partisan und Schuster, auf den Tresen herab. Dass er dort hängen sollte, hatte Charlotte vor ihrer Abreise zur Bedingung gemacht. Dann würde Anne die eine, Hildegard die andere Haushälfte erben. Irgendwann.

„Fritze? Du bist am Zug …“

Foto: Nane Diehl

Manja Präkels,Jahrgang 1974, schreibt, singt und tourt mit ihrer Band Der Singende Tresen. Soeben erschien beim Verbrecher Verlag die von ihr mit Markus Liske herausgegebene Textsammlung „Vorsicht Volk!“. Seit 2009 betreiben die beiden die Gedankenmanufaktur WORT & TON. Ihr Romandebüt „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ erscheint 2016.

Illustriert wird die „Im Anwohnerpark“-Serie von Maria MacDonald, cargocollective.com.

Aber Fritze hörte nicht. Unter dem Haselnussbäumchen war es dunkel geworden.

„He, nicht schlafen!“

Heiner Müller, der nicht Heiner Müller war, beugte sich vorsichtig zu seinem Schachpartner hinüber, betastete kurz die Hand, den Hals, fühlte nach einem Puls. Dann seufzte er schwer, legte Fritzes Dame um und schritt in die Nacht davon:

„Mach´s gut, alter Freund!“

Ende