: Angst vor der Strahlenwüste
Bewegung Es begann 1973 mit einem Teelöffel voller Plutonium. Anti-Atom war Gemeinschaftsgefühl und Agitprop, Rebellentum und Heimatschutz, tolle Frauen und Lustangst vor der Katastrophe. Eine persönliche Zeitreise von Wyhl nach Fukushima
Holger Strohm war schuld. Der Hamburger Buchautor („Friedlich in die Katastrophe“) kam 1973 in das Schwarzwald-Städtchen Schramberg, um über Atomkraftwerke zu sprechen. Mitten im Vortrag zog er einen Teelöffel aus dem Sakko: So viel Plutonium reiche aus, um die gesamte deutsche Bevölkerung umzubringen. Dann kam eine Apfelsine zum Einsatz – diese Menge Plutonium würde die ganze Welt auslöschen.
Ich war 19 und konnte an nichts anderes mehr denken.
Plutonium, ein Löffelchen killt Deutschland. 24.000 Jahre Halbwertszeit. Mein Opa war 72, Jesus lebte vor 2.000 Jahren, die letzte Eiszeit war 10.000 Jahre her.
Die zweite Initialzündung kam von einem alten Herrn vom Atomstandort Wyhl am Kaiserstuhl. Er hielt in Freudenstadt eine feurige Rede. Ein Satz blieb hängen: „Ein großes Atomkraftwerk hat ein radioaktives Inventar von tausend Hiroshima-Bomben.“ Der Mann erzählte auch viel Unsinn – die Dampfschwaden der Meiler würden die Region dauerhaft in Nebel hüllen –, aber seine zitternde Stimme und seine Verzweiflung waren echt.
Eberle und das Hausschwein
Den dritten Impuls gab Erhard Eppler. Der hagere SPD-Moralist sprach in seinem Wahlkreis Rottweil ständig über die neuen Stromfabriken und sah einen dabei an, als läge es allein an mir, dem jungen Journalisten, die Menschen vom Atom zu heilen.
In Wyhl selbst war die Stimmung großartig. Weil der Wirtschaftsminister des Landes Rudolf Eberle hieß – er war neben Exnazi Filbinger das Feindbild –, trieb man einen Eber, also ein Hausschwein, johlend durch den Weinbauort.
Gegen die Wasserwerfer installierten die Bauern ihre Jauchespritze. Auch Winzer, Lehrerinnen, Ärzte, Gastwirte, Pastorinnen mit und ohne Ornat, die Ortselite, kreischende Hausfrauen, die Konkursmasse der Studentenbewegung, Hippies und Kommunisten demonstrierten in Wyhl. Ein echter Wohlfühlmix. Antiatom – das war Gemeinschaftsgefühl und Agitprop, Rebellentum und Heimatschutz, tolle Frauen und Lustangst vor der Katastrophe. Das neue Wort Bürgerinitiative fühlte sich gut an.
Das Gefühl, auf der richtigen Seite für etwas Wertvolles zu kämpfen, war überwältigend. Die Propaganda der Badenwerk AG zementierte dieses Gefühl. Sie luden zur „Kaffeefahrt“ und informierten: Kernkraftwerke sind umweltfreundlich, sicher und unschädlich. Die zusätzliche Strahlendosis beträgt im Jahr weniger als ein Millirem. Das schadet nicht. Allein von der Sonne erhalten wir 70 Millirem. Und die Explosionsgefahr? Sie ist ausgeschlossen!
Wir lasen die Infoblätter und kringelten uns, doch die innere Empörung glühte: Die lügen, dass sich die Brennstäbe biegen. Das erhöhte die eigene moralische Überlegenheit. Mein Lieblingssatz der Atomgemeinde: „Wer Kernkraftwerke verbieten will, der muss auch Streichhölzer verbieten. In falschen Händen haben sie viel Unheil angerichtet.“
Selbstverständlich ging es auch gegen die politische Klasse, gegen den baden-württembergischen CDU-Ministerpräsidenten Hans Filbinger, gegen das verhasste System.
Aber die Überzeugung und die Angst, dass ein schwerer Unfall Europa in eine Strahlenwüste verwandeln könnte, war das stärkere Motiv, zusätzlich aufgeladen durch Berichte meines japanischen Freunds Jannes Tashiro und sein Hiroshima-Buch.
Als 1979 mitten im großen Gorleben-Hearing der niedersächsischen Landesregierung das Atomkraftwerk Three Mile Island in Harrisburg außer Kontrolle geriet und die erste Kernschmelze das Szenario eines möglichen nuklearen Infernos bestätigte, schlingerte auch der eigene Reaktorkern.
Wir blieben nach außen zwar witzig und zitierten die offizielle Risikostudie – „eine Kernschmelze alle hunderttausend Jahre: Kinder wie die Zeit vergeht“. Aber die Leichtigkeit war dahin. Das war kein Spiel; die nuklearen Stromfabriken waren tatsächlich Monster. Nach Harrisburg nahm die Ernsthaftigkeit zu, auch das Lagerdenken. Und die Militanz.
Mit chirurgischer Präzision sezierte Reaktorexperte Michael Sailer vom gerade gegründeten Öko-Institut e. V. in schnarrendem Hessisch die Sicherheitslücken und Schwachstellen der Meiler. Eine Konferenz von Atomopfern versammelte Indianer des US-Atomtestgeländes, Strahlenkranke aus Hiroshima, Frauen aus Harrisburg – Eindrücke und Emotionen, die man nie vergisst.
Damals war ich bei der taz. Wir hatten zu jedem Haarriss und jedem AKW prall gefüllte Archivordner, die ein Heer von Praktikanten ständig weiter stopfte. Petra Kelly, die die Grünen mitgründete, schickte uns dicke mit Blümchen bemalte Infopakete zu Strahlen, Krebs und anderen multiplen Nekrosen. SED-Dissident Rudolf Bahro brachte frische Erdbeeren und lobte uns, bis wir knallrot wurden. Fast täglich telefonierten wir mit dem Salzburger Autor Robert Jungk („Der Atomstaat“), mit dem konvertierten Reaktorbauer Klaus Traube, mit CDU-Aussteiger Herbert Gruhl, mit Aktivistin Marianne Fritzen oder mit Technikkritiker Otto Ullrich – brillante, integre, kluge Leute: die Leitfiguren.
Richtig unjournalistisch
Die Bürgerinitiativen schickten eine Flut von Artikeln – Wutprosa und Betroffenenberichterstattung. Von der Moralsoße befreit, lieferten sie Informationen und Einschätzungen zur Lage an den Standorten. Die Artikel begannen etwa so: „Ganz Deutschland ist von der Atommafia besetzt. Ganz Deutschland? Nein, ein kleines Dorf namens Brunsbüttel, Brokdorf, Grohnde, Volksmarsen, Ohu …“
So organisierte die taz die Kommunikation der Bürgerinitiativbewegung, der „neuen Landplage“ (FAZ). Die Berichterstattung war vollkommen einseitig, parteiisch, unjournalistisch. Aber auch: genau richtig! Von den übrigen Medien wurde die neue Bewegung weitgehend ignoriert.
Dann, am 26. April 1986: Tschernobyl.
Harrisburg war weit weg gewesen, jetzt versetzte die ukrainische Strahlenwolke ganz Europa in Angst und Schrecken, dazu die Hubschrauberbilder des radioaktiven Trümmerhaufens. Als die Rettungstrupps an Strahlenkrankheit krepierten, als in Weißrussland die Krebserkrankungen explodierten und kahlköpfige Kinder in unsere Wohnzimmer flimmerten, glaubten viele an den Ausstieg.
Es kam anders. Die Pilze strahlten, der Salat wurde untergepflügt und mit ihm alle Hoffnungen auf eine neue Energiepolitik. Immerhin: Die taz wurde dank Tschernobyl gerettet, die Abo-Kurve ging steil nach oben. Und jeden Samstag druckten wir seitenlange Listen zur Strahlenbelastung von Lebensmitteln.
Die Meiler liefen weiter, aber die Talfahrt der Atomenergie nahm Fahrt auf. Der schnelle Brüter in Kalkar, der Hochtemperaturreaktor in Hamm-Uentrop, das auf der Erdbebenspalte gebaute AKW Mühlheim-Kärlich wurden nie in Betrieb genommen. Die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf und andere Standorte wurden aufgegeben, die Verklappung von Atommüll im Meer gestoppt, jeder Castortransport nach Gorleben brauchte zwanzigtausend Polizisten. Und die Umfragemehrheiten gegen Atomkraft waren stabiler als Reaktorstahl.
Es brauchte schließlich auch noch Fukushima für den endgültigen Ausstieg, aber die dümmste Art Kaffee zu kochen, durch Spaltung von Urankernen, war lange vorher ein Auslaufmodell, abgelöst von erneuerbaren Energien.
Die Atomindustrie inszenierte 1993 mit einer Anzeigenserie ihre letzte große Märchenstunde: „Sonne, Wasser oder Wind“, hieß es da, „können auch langfristig niemals mehr als vier Prozent unseres Strombedarfs decken!“
Manfred Kriener war von 1980 bis 1990 Ökologieredakteur bei der taz und ist Gründungs-Chefredakteur von zeozwei
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