Burn-out-Björn bleibt futsch

Dokumentar-Theater „Kaspar Häuser Meer“, jetzt aufgeführt an Hamburgs Thalia in der Gaußstraße, ist ein erschreckend realistisches Stück über drei überforderte Sozialamtsmitarbeiterinnen

Das Grunddilemma: So sehr man den anderen braucht, so sehr käme man ohne ihn besser zurecht

Das Stück hatte von Anfang an das Potential zum Hit – und es ist einer geworden: „Kaspar Häuser Meer“. Ein kompaktes Bühnenstück für drei Sozialamtsmitarbeiterinnen, geschrieben 2008 von der Theaterautorin Felicia Zeller, schnell prämiert und aufgeführt auf zahlreichen deutschen Bühnen, als da wären: Aachen, Saarbrücken, Freiburg, Hannover.

Das Sozialamt! Welch ein Ort des Schreckens und der Hoffnung. Des Schutzes und des Verrats. Und wo ließe sich eine der Grundfragen unserer Gegenwart besser verhandeln: Wie stark darf der Staat in Familien eingreifen, wie sehr muss er es? Kind wegnehmen auf Nummer sicher oder Kind dort lassen und vage hoffen, sozusagen. Jedes Mal können sich die Handelnden mit bestem Wissen und Gewissen für das Falsche entscheiden. Welch ein Potential für die Fantasietätigkeit der Zuschauenden also! Wie hätte ich entschieden?

Auch in Hamburg war das Stück schon zu sehen – im Winterhuder Fährhaus, das nicht gerade als wagemutige Spielstätte bekannt ist, sondern eher unterhaltsame Kost bietet.

Nun ist „Kaspar Häuser Meer“ erneut auf die Bühne gehoben worden – im Thalia in der Gaußstraße, der kleinen, experimentellen Filiale des Thalia Theaters. Inszeniert hat es die junge Regisseurin Friederike Harmstorf. Die es mit dem vielleicht besten Frauentrio besetzen kann, das ihr das Haus bietet: Gabriela Maria Schmeide, Birte Schnöink und Victoria Trauttmannsdorff.

Ein Sprechstück ist es zuallererst, ein dicht gewebter Teppich aus Rechtfertigungen und Erklärungen und Zweifeln, jede Menge Sprachwitz inklusive.

„Jetzt habe ich den Satzanfang vergessen“, spricht Sozialamtsmitarbeiterin Barbara, die Erfahrene, die so gern erzählt, was ihr alles gelingt (trotz der Belastung durch viel zu viele Fälle!) – und redet unverdrossen weiter.

„Mensch Silvia, setzt dich doch mal auf deine innere Parkbank“, sagt Anika, die jüngste des Trios, die es in den 90 Minuten schaffen wird, jenen Jargon aus Pseudopsychologie und Fachsprache nicht länger zu imitieren, sondern sich ganz zu eigen zu machen.

Während Silvia, die Mittlere, unbedingt noch die große Jahresstatistik über all die Fälle, die in Form sogenannter Akten auf ihren Schreibtischen landen, auf den Weg bringen muss. Deshalb geht sie erst einmal eine rauchen.

Bleibt noch Björn. Björn, der Kollege. Der gerade krank ist und es länger bleiben wird, weil: Burn-out. Burn-out-Björn, sozusagen. Um den sich die drei sorgen, den sie abwechselnd in Schutz nehmen, den sie ebenso verfluchen mit all seinen liegen gebliebenen Fällen, die sie jetzt abarbeiten müssen – denn das scheint das Grundprinzip dieses Sozialarbeiterinnenlebens zu sein: so sehr man den anderen braucht, so sehr käme man ohne ihn besser zurecht.

Man kann dies Stück zunächst rein vom Text her eins zu eins nehmen und in eine sprachgewaltig-überbordende, aber dann doch realistische Beschreibung des Daseins im Sozialamt umsetzen. Muss man aber nicht. Sondern kann im Gegenteil das von Zeller angebotene Sprachmaterial als Beschreibung unserer täglichen Arbeitswelt zwischen dem Willen zur Selbstverwirklichung und dem banalen Zwang, jeden Morgen auf der Arbeit zu erscheinen, verstehen. Diese Lesart legt die Inszenierung von Friederike Harms­torf nahe, und das ist die große Stärke dieser sehenswerten Arbeit.

Nicht zufällig unterteilt sie daher den Bühnenraum durch eine Glaswand, auf der die drei emsig Arbeitenden ihre Arbeitsabläufe in weißer Schrift zu visualisieren versuchen und in der sich auch die Zuschauer spiegeln. Denn so weit weg ist das, was auf der Bühne passiert, von ihnen nun mal nicht.

Und Björn? Der anwesende Abwesende? Der so wichtig ist, damit immer weiter geredet und analysiert werden kann und den wir alle brauchen, um uns abzugrenzen wie um uns vergleichen? Björn taucht nicht auf. Björn bleibt verschwunden. Und es ist nicht damit zu rechnen, dass er eines Tages durch die Tür tritt und sich wieder an seinen Platz setzt – wo immer der gerade ist. Frank Keil

Nächste Aufführungen: 26. 4. sowie 1. + 8. 5., Thalia in der Gaußstraße, Hamburg