ERBSTÜCK: Die Geige des Gefangenen

Irgendwo in der Gete liegt eine Geige mit einer ganz besonderen Geschichte: Sie entstand unter den extremen Bedingungen eines Lagers

Am Anfang war Brennholz und ein Blechstreifen: Die Geige von Hermann Busche Foto: Privat

Manchmal ist große Zeitgeschichte in stillen Seitenstraßen zu finden. Zum Beispiel in der Uhlandstraße, parallel zum Bahndamm in der Gete gelegen. Hier findet man – oder auch nicht – die kleine Ladenwerkstatt von Frank Wichmann, die in vielerlei Hinsicht etwas Besonderes ist. Nicht nur, weil hier Bremens einziger – und seit 30 Jahren wieder erster – Geigenbau-Lehrling tätig ist. Oder, weil Wichmanns Haus, „an meine Bahnen kommt kein Strom“, auch ein Dampflok-Universum birgt. Sondern, weil Wichmanns Laden ein Instrument beherbergt, das unter nur schwer vorstellbaren Umständen entstand: eine Gefangenen-Geige.

„Als ich nach langem Stochern in den Brennholzvorräten unserer Baracke und auch der benachbarten Baracken schließlich Abfall-Bretter von entsprechender Größe und Dicke gefunden hatte, musste noch das nötige ,Werkzeug' vorbereitet werden.“ So erinnerte sich Hermann Busche, der im Jahr 2000 gestorbene Erbauer des Instruments, an die ersten Arbeitsschritte. Busche war Kriegsgefangener in einem US-Lager. Wo genau, ist akribisch auf dem Boden des Instruments vermerkt: P.O.W Camp Como Miss. U.S.A., steht da – auf einem Corpus, dem man die Herkunft aus dem Brennholzstapel in keiner Weise ansieht.

Auch Wichmann ist fasziniert davon, was der internierte Wehrmachts-Soldat zustande brachte: „Dass man unter solchen Umständen ein solches Instrument bauen kann, ist eine absolut erstaunliche Leistung“, sagt der Fachmann. Mit „solchen Umständen“ meint Wichmann zum Beispiel die Art der zur Verfügung stehenden Werkzeuge.

„Ein schmaler Blechstreifen aus einem Bett in einer leerstehenden Baracke wurde mit Hilfe schartig gemachter gebrauchter Rasierklingen zu einer halbwegs brauchbaren Säge umgestaltet“, notierte Busche. „Mit ihr habe ich die Umrisse von Decke und Boden aus den Brettern herausgearbeitet. Für die Feinarbeiten benutzte ich viele alte Rasierklingen, die meine Kameraden eifrig gesammelt hatten.“ Auch „immer wieder nachgeschliffene Tafelmesser“ aus der Lagerkantine kamen zum Einsatz.

Busches detaillierte Baubeschreibung ist durch dessen Enkelin überliefert – die bei Wichmann einen Geigenbaukurs besucht. Was deren Großvater bewegt hat, das Irrsinns-Pojekt zu beginnen? „Das schlichte Bedürfnis, etwas zu tun“, vermutet Wichmann. Im Kurs sei auch ein Syrer gewesen, ein studierter Kontrabassist, der angesichts seiner traumatischen Erfahrungen nach Ablenkung sucht. Busche selbst erinnert sich: „Das fast stumpfsinnige Schaben, Kratzen und Reiben war eine sehr bedeutsame Ablenkung von der Sorge um meine Familie.“ Mit ungezählten Blatt Sandpapier habe er die Bretter so bearbeitet, dass die gewölbten Konturen herauskamen.

Natürlich habe das Instrument nicht gerade einen großen Ton, sagt Wichmann, die eine Corpus-Decke sei zu dick, die andere zu dünn. Aber Busche war – dieses „Detail“ erfährt man erst jetzt – auch keineswegs Instrumentenbauer. Sondern ein 25-jähriger Lehrer, den die aus anderen Lagern bekannten Streichholzgeigen inspiriert hatten. Derartige Zündholz-Mengen waren in Busches Lager jedoch nicht beschaffbar.

Im Vergleich zur Herstellung von Decke und Boden sei die Anfertigung der übrigen Teile geradezu „einfach“ gewesen, erinnert sich Busche. Im Februar 1945 habe er alles mit einer Art Tischlerleim zusammengeklebt „und dabei auch den Stimmstock und den Bassbalken nicht vergessen“. Bis auf die Metallteile des Kinnhalters, den er sich „organisieren“ konnte, stammt somit alles aus eigener „Werkstatt“: Griffbrett, Steg, Saitenhalter.

Hermann Busche, Kriegsgefangener

„Das fast stumpfsinnige Schaben, Kratzen und Reiben war eine sehr bedeutsame Ablenkung“

Man sieht den klobigen Wirbeln durchaus an, unter welchen Umständen sie entstanden sind. Etliche Kollegen, denen er die Geige zeige, sagt Wichmann, könnten mit ihr denn auch nur wenig anfangen: „Die sehen das nur unter dem Parameter der fehlenden Perfektion.“ Ihn aber bewege die Geschichte – und deswegen stellt er das Instrument mitsamt Erläuterungen gelegentlich in sein kleines Schaufenster. „Manche“, sagt Wichmann, „bleiben dann richtig lange stehen“.

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