: Sentimentale Erinnerungen an der Förde
HANDBALL Der seit Jahren dominierende THW Kiel verliert im Nord-Klassiker bei der SG Flensburg-Handewitt überraschend deutlich mit 35:29 und überwintert auf einem ungewohnten zweiten Platz. Die Handball-Bundesliga ist so spannend wie lange nicht mehr
FLENSBURG taz | Nur wenige Tage schien es, als sollte die Handball-Bundesliga in vertrauter Hackordnung in die Winterpause gehen. Kurz vor dem Auftritt bei der SG Flensburg-Handewitt hatte Serienmeister THW Kiel die Tabellenführung erobert. Doch nach der 35:29-Packung in Flensburg ist der Trend der Vorrunde bestätigt: Die Spitze rückt enger zusammen, die Bundesliga ist wieder spannend.
„In der Hitze des Nordens“ heißt ein Buch über die traditionsreiche Geschichte des Nordderbys: Dieses Spiel hätte einen Ehrenplatz darin verdient gehabt. „Ich bin seit 2006 hier“, sagte SG-Trainer Ljubomir Vranjes nach dem Spiel. „Aber so eine Stimmung habe ich hier noch nie erlebt.“ Das will etwas heißen in einer Halle, die als „Hölle Nord“ berüchtigt ist.
Bei Nostalgikern wurden Erinnerungen an die Zeiten geweckt, in denen die großen Titel nur zwischen den beiden Fördeklubs ausgespielt wurden. Zeiten, in denen noch keine neureichen Großstadtvereine aus Hamburg, Mannheim oder Berlin eine Sportart aufmischten, in der die Provinz den Metropolen regelmäßig eine lange Nase zeigte.
Die unbestechliche Realität der Bundesligatabelle, die jetzt bis Anfang Februar eingefroren wird, sieht anders aus. Da grüßt mit den Rhein-Neckar Löwen ein Klub von oben, der seit Jahren mit beträchtlichem finanziellen Aufwand versucht, an den Nordklubs vorbeizuziehen, und es ausgerechnet in einem Augenblick schafft, in dem ihm der Hauptsponsor die Mittel streicht und ein Loch von zwei Millionen Euro im Etat hinterlässt.
Doch Manager Thorsten Storm, der auch schon in Kiel und Flensburg angestellt war, gelang es, teure Spieler zu verkaufen und günstige zu entdecken, die Trainer Gudmundur Gudmundsson zur spielstarken Einheit formte. Und mit der sich die Zuschauer mehr identifizieren als mit den teuer zusammengekauften Vorgängertruppen.
Auch beim HSV Hamburg hat sich mit dem Medizinunternehmer Andreas Rudolph der jahrelange Mäzen zurückgezogen. Da gleichzeitig die mit seinem Geld aufgebaute Meistermannschafft von 2011 in die Jahre gekommen ist, steht ebenfalls ein Neuaufbau an, der bislang allerdings noch ziemlich holprig verläuft, wie Tabellenplatz sechs zeigt.
Die Hamburger werden sich mit einer Reihe anderer Klubs wie dem Überraschungsteam aus Hannover-Burgdorf oder den auf hohem Niveau konstanten Füchsen aus Berlin auf die Plätze drei und vier konzentrieren, die für die Teilnahmen an der Champions League berechtigen. Damit wären vor dem deutlichen Erfolg gegen Kiel auch die Flensburger zufrieden gewesen. Aber die Art und Weise, wie sie den Sieg herausspielten, schürt die Hoffnung, doch noch einmal an der fünf Punkte entfernten Spitze angreifen zu können.
Zumal das erfolgsverwöhnte Kieler Team nach dem vergangenen Triumphjahr ohne Niederlage in Meisterschaft und Champions League satt zu sein scheint. Nach dem Abgang von Weltklasse-Mann Kim Andersson ist sie für die Gegner ausrechenbarer geworden. Die individuelle Klasse, die oft den Ausschlag gab, ist noch nicht durch eine neue kollektive Stärke ersetzt worden, wie sie Flensburger oder Löwen in dieser Saison auszeichnet.
Viel wird in der Rückrunde davon abhängen, wie die Spieler gesundheitlich durchkommen. In einer äußerst verletzungsreichen Hinrunde hatte es zuletzt den überragenden Löwen-Linksaußen Uwe Gensheimer erwischt, der sich die Achillessehne riss. Das brachte nicht nur Manager Storm auf die Palme: „Das ist angesichts unseres permanenten Termin-Wahnsinns mit Bundesliga, Europapokal, DHB-Pokal und Nationalmannschaft kein Wunder. Alle reden, keiner tut was.“ Die SG Flensburg-Handewitt tut jetzt etwas und lässt ihre von Verletzung und Erkrankung gebeutelten Nationalspieler Lars Kaufmann und Holger Glandorf während der WM in Spanien zu Hause, damit sie sich erholen können. RALF LORENZEN