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Soziotop Blaskapelle

AMATEURORCHESTER Zwischen Walpurgisfeier und Schützenfest: In der Hamburger Aufführung des Stücks „En avant, marche!“ des belgischen Theatermachers Alain Platel spielt der Musikzug Hoisdorf sich selbst

von Katrin Ullmann

Sie sind Mitte 20, studieren längst in Lüneburg, Lübeck oder Hamburg. Und fahren doch jede Woche zurück nach Hause, nach Hoisdorf. Knapp 3.500 Einwohner groß ist die Gemeinde zwischen Großhansdorf und Bargteheide nordöstlich von Hamburg. Auf den ersten Blick ist hier für junge Leute nicht viel los. Alle paar Wochen macht die Fahrbücherei Station. In einem historischen Bauernhaus befindet sich das Stormarn’sche Dorfmuseum, direkt neben den unter Naturschutz stehenden Hois­dorfer Teichen. Aber seit mehr als 60 Jahren gibt es hier auch den Musikzug Hoisdorf.

Der ist der eigentliche Grund, weshalb etliche Mittzwanziger regelmäßig an ihren Heimatort zurückkehren, zum gemeinsamen Musizieren. Rund 40 aktive Mitglieder verzeichnet das Bläserensemble nicht ohne Stolz. 1953 aus Feuerwehrkapelle und einem Dutzend interessierter Dorfbewohner entstanden, widersetzt es sich ­erfolgreich der Überalterung und findet generationenübergreifend Zulauf: Das jüngste Mitglied ist erst 12, das älteste 80 Jahre alt. Natürlich werden hier Traditionen bewahrt und – für Außenstehende – Klischees erfüllt: Selbstverständlich spielt der Musikzug Hoisdorf beim Frühschoppen zum 1. Mai, bei Beerdigungen und auf Schützenfesten, beim traditionellen Weihnachtsblasen und bei der Walpurgisfeier.

Nun aber steht er erstmals auf einer große Bühne in der Großstadt, auf Kampnagel, in der jüngsten Arbeit des belgischen Choreografen Alain Platel, die dieser gemeinsam mit dem Regisseur Frank van Laecke und dem Komponisten Steven Prengels entwickelt hat. Seit beinahe einem Jahr touren die belgischen Theatermacher erfolgreich mit ihrem Stück „En avant, marche!“ durch Europa, an mehr als 30 Orten wurde es bereits aufgeführt. Es ist ein Stück mit Theater, Tanz und vor allem viel Musik.

Und ein Stück über das Soziotop Amateurorchester, in dessen Zentrum ein alternder Posaunist steht, der aufgrund seiner Krebserkrankung und gegen seinen Willen ans Becken versetzt wird. Literarische Grundlage ist Luigi Pirandellos Stück „Der Mann mit der Blume im Mund“ (1923). Seit der Uraufführung in Gent wird an jedem neuen Spielort das bestehende Ensemble aus Tänzern, Schauspielern und Musikern um eine regionale Blaskapelle erweitert. Für die Aufführung in Hamburg ist das der Musikzug Hoisdorf.

„Klar, so eine Aufführung ist etwas Besonderes“, sagt Vincent Holzwart sofort. Der Posaunist fing im Alter von neun Jahren im Musikzug Hoisdorf an. „Und sicher“, sagt der Mittzwanziger ganz offen, „bedeutet so ein Verein immer auch eine Gratwanderung, einen Mittelweg zu finden zwischen Kunstverein, Konzerten und Feuerwehrfest, bei dem man Marsch 1 bis 35 spielt.“ Aber letztlich, ergänzen Flötistin Anne-Kristin Klein und Schlagzeugerin Anne Faber, stünden der Spaß und das Zusammenspiel im Vordergrund. Denn im Ensemble ist jeder Einzelne wichtig und fast noch wichtiger dabei sei: „Wenn man Musik macht, ist es egal wer du bist. Es interessiert keinen, was du machst, ob du Müllmann bist oder Professor für Schiffsbau. Das spielt keine Rolle.“

„Es geht nicht um Perfektionismus, es ist kein Konzert“, sagt der musikalische Leiter Steven Prengels

In „En avant, marche!“ trifft also internationale Kunst auf regionale Gemeinschaft. Ein Treffen auf Augenhöhe: So bemerkt Jürgen Stache, der langjährige musikalische Leiter des Musikzugs Hoisdorf, das Besondere beim Musizieren sei, „diese besondere Interaktion oder Kommunikation herzustellen“, was durch den digitalen Wandel zunehmend schwieriger werde, „weil ja jeder an seinem Smartphone hängt“. Damit ist er gar nicht so weit weg von dem, was den musikalischen Leiter Steven Prengels an diesem Soziotop interessiert: „Diesen Mikrokosmos, diese ganz eigene Welt als Metapher zu benutzen; dieses Ensemble als Refugium für Menschen zu zeigen, die trotz persönlicher Unterschiede eine gemeinsame musikalische Leidenschaft verbindet.“

Vor der jeweiligen Premiere ist es Prengel, der das bestehende belgische Ensemble mit den Musikern aus der Region zusammenführt. Dafür hat er nicht viel Zeit. Meist sind es nur zwei intensive Proben. Umso größer ist sein Vertrauen darauf, dass die externen Ensembles eine ausreichende Qualität liefern. „Das ist ein großes Risiko, aber das macht auch den Charme des Stücks aus“, sagt er. „Es geht darin nicht um Perfektionismus. Es ist kein Konzert.“ Und Musik, fügt er hinzu, „oder auch Kunst im Allgemeinen – ist keine Wissenschaft. Es gibt verschiedene Wahrheiten darin und das halte ich heutzutage für sehr wichtig.“

Mit Plate arbeitete Prengels bereits für die Stücke „Gardenia“ (2010), „ C(H)ŒURS“ (2012) und für das zum Theatertreffen eingeladene „Tauberbach“ (2013) zusammen. Für „En avant, marche!“ hat er unter anderem Werke von Elgar, Schubert und Verdi für eine Blaskapelle arrangiert, aber natürlich wird an dem Abend auch der eine oder andere Marsch gespielt. Denn „En avant, marche!“ ist auch eine Ode an die Kraft der Blasmusik: pathetisch, spielerisch, assoziativ – mit einem guten Schuss Melancholie.

Sa, 2. 4., 20 Uhr, Kampnagel

www.musikzug-hoisdorf.de

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