: Exzessiv queere Rollenwechsel
Bühne Ist Tanz Sprache oder jenseits davon? Dem geht die Choreografie „Golden Hours (As you like it)“ von Anne Teresa de Keersmaeker nach. Als Vorlage dienen Shakespeares „Wie es euch gefällt“ – und Brian Eno
Von Astrid Kaminski
Geht das noch: eine Mann-Frau-Liebesbeziehung in einem zeitgenössischen Tanzstück? Das wurde Anne Teresa de Keersmaeker im letzten Herbst nach der Berlin-Premiere von „Verklärte Nacht“ gefragt. Der Tonus war aggressiv. Die gestandene, vielfach ausgezeichnete Choreografin, die bis dahin außergewöhnlich gut gelaunt durchs Publikumsgespräch navigiert war, fühlte sich tatsächlich angegriffen. Gleichzeitig schien sie froh, ehrlich antworten zu können: Sie habe sich diese Frage auch lange gestellt. Habe überlegt, ob sie das Liebespaar aus „Verklärte Nacht“ etwa von zwei Männern tanzen lassen solle. Aber dann ließ sie verbal kurz einen Blick über die Weltlage schweifen und brach in ein Bekenntnis aus: „In den 1980ern war ich keine Feministin, aber heute bin ich eine.“
Nirgends herrscht derzeit so sehr die Freiheit des sozialen Geschlechts über das natürliche wie im zeitgenössischen Tanz, und darauf bildet sich die Szene was ein. Geschlechtsspezifische Rollenzuschreibungen, wie etwa in der Kostümwahl oder in den klassischen Besetzungen von Hebefiguren (Mann schuftet, Frau schwebt – und spreizt schlimmstenfalls die Beine), gehören schon lange in den Giftschrank zeitgenössischer Choreografie. Den hat de Keersmaeker in „Verklärte Nacht“ knallhart geöffnet; Anzug für den Herrn und rosa Kleidchen für die Dame herausgeholt. Das war wohl das eigentliche Problem. Es wirkt daher ein wenig nach schlechtem Gewissen, wenn sie nun mit ihrem neuen Stück „Golden Hours (As you like it)“, mit dem sie wiederum am Berliner HAU Hebbel am Ufer zu Gast ist, exzessiv queere Rollenwechsel zelebriert.
Als Vorlage dienen ihr dazu Shakespeares „Wie es euch gefällt“ von 1599 und Brian Enos Ambiente-Pop-Album „Another Green World“ von 1975 – stimmungsmäßig ein tolles Match: Hier die weiblich-männliche Transfigur Rosalinde, dort die besungene Rosalie, hier die losen Schnürsenkel, die den Verliebten markieren, dort jemand, der die Schnürsenkel bindet. Hier die verbannten Adeligen, die im Wald von Arden ihren Traum von Arkadien leben, dort das entspannt repetitive Wegdämmern hin zu einem anderen Planeten, der genauso wie hier ist, nur besser. Kurz: zweimal aussteigen.
Zunächst als poetisches Experiment. Lässt sich durch die Verlagerung des inneren Verhältnisses zur Welt die Außenwelt verändern? Dafür findet die Choreografin, die hier nicht mit ihrer Compagnie Rosas arbeitet, sondern mit elf virtuosen Nachwuchstänzer*innen, ein faszinierendes Anfangsbild: Viermal lässt sie Enos „Golden Hours“ laufen, beim zweiten Mal tritt die Gruppe unisono in Rechts-links-Shifts bei gleichzeitiger Slow-Motion-Vorwärtsbewegung auf, wie auf einem Schiff bei Seegang. Bald schon verselbstständigen sich die Shifts, auch wenn die Gruppe die Bewegung anhält, scheint die Welt weiter zu schwanken. Eine perfekt minimalistische Theaterillusion auf kahler Bühne, über der einzig eine laufstegartige Gitterlampe hängt. De Keersmaeker ist nicht umsonst die europäische Vertreterin des postmodernen Minimal Dance schlechthin.
Aber darauf ruht sie sich nicht aus. Nach ihrer jahrelangen Beschäftigung mit dem (Echo-)Verhältnis von Musik und Tanz, die 2015 in die neunwöchige Dekonstruktion ihrer Choreografie zu Gérard Griseys Spektralkomposition „Vortex Temporum“ für das Brüsseler Museum WIELS mündete, widmet sie sich nun dem eher vernachlässigten Gebiet Tanz und Sprache.
Dafür reduziert sie den Shakespeare-Text auf Haupthandlungslinien, die stummfilmmäßig auf die Bühnenwand geworfen werden und den Tänzer*innen gleichzeitig als Subtexte für ihre Bewegungsfindung dienen. Heraus kommt eine deklamatorische, anapästische, teils pantomimisch wirkende Gestik, die gleichzeitig schlank in ihrer Körperführung wie barock in ihrem Duktus wirkt. Wie die Hüllen alter Schauspielrhetorik, übergestreift von jungen Tänzer*innen.
Wo dieser Ansatz hinführen soll, ist noch unklar. Dem Shakespeare-Text gegenüber bleibt de Keersmaeker, bis auf ein ausgebautes Rollenwechselspiel, plakativ verpflichtet; die eingesetzten Struktur- und Choreografiemittel sind aus ihrer bisherigen Praktik übernommen und wirken durch die Versiertheit zwar elegant, aber durch ihren Exportcharakter auch manieriert. „Golden Hours“ präsentiert sich wie ein großes Puzzle, dessen Teilchen irgendwie ineinandergreifen, aber kein Bild ergeben. Sprache oder Nicht-Sprache?, das ist die große Frage des Tanzes seit dem Konzepttanz der 1990er. De Keersmaeker forscht an ihr auf offener Bühne. „You’d be surprised at my degree of uncertainty“, heißt es in dem viermal gespielten Eno-Song. Vielleicht auch ein Bekenntnis.
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