Fernseher aus, Sternschnuppen an

KULT Die Randgruppencombo aus dem Westen spielt Stücke des Liedermachers Gundermann aus dem Osten. Zu den Konzerten pilgern jedes Jahr Tausende

In vielen Familien wäre Weihnachten im Eimer, lägen die Eintrittskarten nicht unter dem Baum

VON SEBASTIAN PUSCHNER

Jedes Jahr, wenn der Musiker Heiner Kondschak kurz vor Silvester für seine Konzerte nach Berlin kommt, dann steht dieselbe Frau im Publikum. Der große Saal im Postbahnhof, zweite Reihe Mitte. „Fernseher aus, Sternschnuppen an“, prangt auf ihrem T-Shirt, die Zeile des Liedermachers Gerhard Gundermann. „Dann fährt sie nach Hause, wäscht ihr T-Shirt und steht am nächsten Abend wieder da, für unser nächstes Konzert“, erzählt Kondschak.

Auch die meisten anderen Zuschauer in den ersten drei Reihen stehen immer wieder am selben Platz, bei jedem Konzert, viele seit zwölf Jahren. Auch weiter hinten sind die in der Unterzahl, die die Randgruppencombo zum ersten Mal sehen – eine halb professionelle Band aus Tübingen, die die Musik eines halb professionellen ostdeutschen Liedermachers spielt: Gerhard Gundermann, gestorben mit 43 Jahren.

Im Westen kennt ihn bis heute kaum einer. Gundermann war Baggerfahrer im Lausitzer Kohletagebau. Ein Weltverbesserer, ein unbequemer Poet. Im Osten wurde Gundermann geliebt. Treffender, so sagen viele, hat keiner das Leben dort vor und nach 1989 besungen.

„Ich hatte keinen blassen Schimmer, wer das ist“, erzählt Kondschak, der im Westen aufgewachsen ist. Er habe sich früher eine Art Reinhard Mey auf Sächsisch vorgestellt. „Schon Reinhard Mey auf Hochdeutsch war für mich untragbar.“ Vor 13 Jahren, Kondschak war damals Leiter der Kinder- und Jugendabteilung des Landestheaters Tübingen, stand er einmal im Stau, irgendwo um Stuttgart herum. Eine Freundin hatte ihm kurz zuvor eine Kassette zugesteckt: eine Stunde Radiomitschnitt zum ersten Todestag Gundermanns. Also hörte er sie sich an. Der Stau löste sich auf. Kondschak fuhr rechts ran, um die Kassette zu Ende zu hören.

Kurz darauf legte er seinen Kollegen am Tübinger Theater heimlich Kopien mit Gundermann-Musik in ihre Spinde, um sie für seinen Plan zu gewinnen: eine Gundermann-Band, ein Gundermann-Konzert. Sie gründeten eine eigene Band, mit Schauspielern, Regieassistentin, Sekretärin und Verwaltungsdirektor des Theaters, elf Leute und noch mehr Instrumente. „Schöne Lieder, aber wer soll da kommen?“, fragte der Intendant nach der Generalprobe.

Es kamen etliche, darunter einige, die aus dem Osten nach Baden-Württemberg gezogen waren, und einige, die extra für das Konzert aus Leipzig, Dresden, Berlin angefahren kamen. Sie sangen laut mit, Gundermanns Lieder über Arbeit und Arbeitslosigkeit, über Hoffnung und Liebe, vor allem das eine über die Heimat: „Hier bin ich geboren, wo die Kühe mager sind wie das Glück, hier lässt man Fremde nicht gerne parken, es sei denn, sie geben einen aus.“

Ausgeben musste Kondschak keinen, als er mit der Randgruppencombo dann auf Tour durch Plauen, Jena, Frankfurt an der Oder ging. Doch im Vorfeld gab es Diskussionen und Misstrauen unter Gundermann-Fans: Jetzt wollen die Wessis auch noch die Musik aus dem Osten übernehmen. Ob sie überhaupt verstehen, was sie da singen, wurden Kondschak und die anderen immer wieder gefragt. „Glaubt ihr, wir sind blöd im Kopf?“, entfuhr es ihm einmal.

Die Tour wurde ein Erfolg. In Berlin hing nach der Pause ein handgemaltes Schild am Mikrofon: „Danke, Tübingen!“ Zwei 18-Jährige hatten es hingehängt, spontan, denn eigentlich waren sie mit anderen Intentionen gekommen: „Die eine zeigte mir später ihre Tasche, darin lagen fünf rohe Eier. Die wollten eigentlich nicht, dass ausgerechnet wir Gundermann singen.“

Kondschak ist 1955 geboren, ein halbes Jahr nach Gundermann. Der ließ sich mit 21 Jahren von der Stasi als inoffizieller Mitarbeiter anwerben. „Ich wollte sowieso immer Agent werden“, sagte er später. Und: „Ich war überglücklich, in diesem Land leben zu dürfen, ich wollte ihm dienen.“ Doch seine Vorstellungen von einem guten Staat unterschieden sich von denen der Partei. Er hielt damit nicht hinterm Berg. Gundermann musste seine Träume von einer Karriere als Politoffizier aufgeben und ging in den Tagebau, erst als Hilfsarbeiter, später als Baggerfahrer.

Am dritten Arbeitstag brachte er einen 21-Punkte-Plan mit Vorschlägen zur Verbesserung der Arbeitssituation mit. „Er muss fürchterlich anstrengend gewesen sein“, sagt Kondschak über Gundermann. Einen „proletarisch im Jetzt verankerten Hippie“ nannte die taz ihn 1998 in einem Nachruf. Da war er gerade an einer Hirnblutung gestorben.

Seinem Land dienen wollte Kondschak nicht, aber wie Gundermann wollte er das ändern, was ihm nicht passte. „Gundermann wollte den Sozialismus, den guten, den hat er nicht gekriegt. Ich war mit diesem Staat im Westen genauso unzufrieden.“ Kondschak brach Maurerlehre und Jurastudium ab, zog als Straßenmusiker umher und arbeitete dann mal freischaffend, mal fest angestellt als Musiker, Schauspieler, Regisseur und Autor.

Wenn Kondschak Gundermann spielt, dann schließt er die Augen, legt den Kopf schief, sodass die langen, zotteligen Haare fast die Gitarrensaiten berühren. Seit dem Jahr 2000 tritt er mit der Randgruppencombo zwischen Weihnachten und Silvester regelmäßig auf. Sechs Konzerte, erst in Tübingen, dann in Berlin, dieses Jahr auch eines in Leipzig. Die gleiche Band, die gleichen Zuschauer.

Nur die Bühnen in Berlin haben sich ein paarmal geändert: Tränenpalast, BKA-Luftschloss, Kulturbrauerei, seit sechs Jahren spielt die Randgruppencombo im Postbahnhof. Alle Konzerte waren stets restlos ausverkauft. In vielen Familien wäre Weihnachten im Eimer, lägen die Eintrittskarten nicht unter dem Baum. Auch an diesem Wochenende kommen wieder 1.000 Zuschauer jeden Abend. Kondschak sagt: „Dass ich so etwas anstoßen würde, hätte ich nie gedacht.“

■ Konzert Samstag und Sonntag im Postbahnhof, Straße der Pariser Kommune 8, Beginn 19.30 Uhr. Samstag ist ausverkauft, für Sonntag gibt es noch Karten an der Abendkasse