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Im Anwohnerpark

MANJA PRÄKELS

Teil 28: Jeder springt für sich allein

Fliiiieeeg!“

„Mann, du sollst dich doch nich so uffregen.“

„Dit is positiver Stress.“

„Positiv? Du bist schon blau im Jesicht …“

Fritze lag auf Hildegards Couch und schrie auf den Fernseher ein. „Um Himmels willen, bleib vorne!“ In der Zeitlupe konnte man gut erkennen, wie knapp der Springer an einem Sturz vorbeigeschrammt war. Doch der junge Norweger war auf Zug geblieben und im letzten Flugdrittel erneut vom Hang weggestiegen. Aufwind. Glück. Die Führung.

Ganze zwei Tage hatte es Fritze im Krankenhaus ausgehalten. Dann war er bei der Freundin aufgetaucht, die ihm, froh, den Herzkranken wenigstens in der Nähe zu wissen, prompt Asyl gewährte. Fritze aber tat seitdem nichts anderes, als Chips fressend vor der Kiste zu liegen und dürren Männern beim Fliegen zuzuschauen. Hildegard hatte die Schnauze voll.

„Du musst zur Nachuntersuchung.“

„Quatsch. Mir jeht’s jut.“

„Aber du kannst hier nich mehr bleiben.“

„Wieso denn?“

„Weil du’ne eigene Wohnung hast?“

Doch Fritze hörte schon nicht mehr hin. Der Favorit stieß sich vom Balken ab, raste auf den Schanzentisch zu, traf den Absprung genau, erfühlte das Luftpolster, machte sich lang und segelte weit, weit, hinab ins Tal. Bei etwa zweihundertdreißig Metern, der Aufsprunghang wurde dort bedrohlich flach, bereitete er die Landung vor. Weich und elegant setzte der Slowene einen Telemark in den Schnee und lachte mit weit aufgerissenem Mund. Das Publikum jubelte, Fritze sprang von der Couch und schrie: „Jaaaa!“ Er merkte nicht mal, wie Hildegard wütend die Tür hinter sich zuschmiss. Sie musste zur Schicht. Ins blaulicht.

Endlich beschien die Sonne Bäume, Balkone und Bauarbeiterhelme in der kleinen Straße nördlich des Alexanderplatzes. Die Luxusmodernisierung war trotz der winterlichen Temperaturen weiter vorangeschritten. Misstrauisch hatten die Bewohner des letzten unsanierten Hauses die Vorgänge im Nachbarhof beobachtet und erste Kaufinteressenten gesichtet. Meist war Englisch deren Verkehrssprache. Doch im Grunde geschah damit nichts Ungewöhnliches zwischen Friedhof, Kaufhalle, blaulichtund Bioladen. Nichts, das man nicht so oder so ähnlich schon mal erlebt hatte. Die Zahl der Alten und Alteingesessenen schrumpfte weiter. Den Zugezogenen war das herzlich egal. Für sie war alles neu, gegeben.

Hildegard fuhr an der Kaufhalle vorbei über die Kreuzung, stieg vom Rad und schloss die Kneipe auf. Die Wolke aus Bierdunst und kaltem Rauch, die ihr entgegenschlug, wirkte eigentümlich beruhigend auf ihre Nerven. Vor der Wirtin lag ein Tag voller Arbeit. Ein im letzten Herbst fortgezogener Stammgast hatte nicht nur sich, sondern eine ganze Horde Biertrinker angekündigt. Geburtstagsfeier. Das konnte sie jetzt gut gebrauchen. Für die Kasse. Für die Moral.

„Empfehlung der Woche: Riesenschnitzel!“ Die Aufhängung des Werbebanners war an einer Stelle gerissen. Der Wind griff zu. Es klatschte. Selten verirrte sich ein Gast zufällig an diesen Ort, der nur unweit des nördlichen S-Bahn-Rings in einer Seitenstraße lag. Aus der Küche drangen Klopfgeräusche. Heiko saß mit den neuen Kameraden im Hinterzimmer. Die Stimmung war im Keller. Überall im Land heimste die Bewegung Erfolge ein, nur die eigenen Anstrengungen waren jedes Mal zum Debakel verkommen. Bei der Demo vor der Turnhalle mit den Ausländern waren sie ausgelacht worden. Nicht nur von den Nachbarn. Auch von den Kontaktbereichsbeamten. Sogar von ein paar der dunkelhaarigen Kindern! Und nun war auch noch der von ihm so bewunderte Kamerad mit dem Reichsadlertattoo verhaftet worden. Wegen Diebstahls. So langsam wurde Heiko die Sache unheimlich. Machte er was falsch? Und wo war Lale abgeblieben, die süße, zauberhafte Lale. Der Assi Django hatte so was Schönes nicht verdient! Heiko schwieg, trank und hatte Heimweh nach Früher. Nach Lale, Lolle und dem blaulicht.

Foto: Nane Diehl

Manja Präkels,Jahrgang 1974, schreibt, singt und tourt mit ihrer Band Der Singende Tresen. Soeben erschien beim Verbrecher Verlag die von ihr mit Markus Liske herausgegebene Textsammlung „Vorsicht Volk!“. Seit 2009 betreiben die beiden die Gedankenmanufaktur WORT & TON. Ihr Romandebüt „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ erscheint 2016.

Illustriert wird die „Im Anwohnerpark“-Serie von Maria MacDonald, cargocollective.com.

Es waren zwar nur zwei Dutzend geworden, die aber tranken für Hundert. Hildegard beobachtete die Geburtstagsgäste am großen runden Tisch, auf dem die Gläser bereits gestapelt wurden. Lauter Fünfziger, Leute vom Bau, denen Arbeit, Wetter und Bier die Haut gegerbt und unnatürlich rot gefärbt hatten. Ein paar humpelten schon. Oder gingen ein bisschen steif. Die wollten keinen Ärger. Hoffentlich.

„Kannste mal abräumen?“

„Klar.“

Die Wirtin hatte Lolle für die Spätschicht engagiert. Der konnte das Geld gut gebrauchen. Angeblich würde Lale, ihre beste Tresenkraft, bald wieder in Ordnung sein. Das zumindest behaupteten die Ladys vom Bioladen nebenan. „Es geht ihr schon viel besser“, hatte Anne gesagt. Hildegard trocknete sich die Hände ab und zog kurz an einer Zigarette. „Ich geh mal das Fass wechseln.“ Geschickt balancierte Aushilfskellner Lolle derweil die leeren Gläser über die Köpfe hinweg, zwinkerte ihr aufmunternd zu und grinste.

Die Nacht verflog so rasch, wie Bier aus einem Zapfhahn strömt. Mit Mühe und Not hatte die Wirtin ihre letzten Gäste herausgekehrt. Einer war sogar auf dem Klo eingeschlafen. Den hatte sie in ein Taxi gesetzt und war dann selbst losgeradelt. Auf einer vielbefahrenen Kreuzung, es war bereits taghell, der Berufsverkehr in vollem Gange, riss auch noch die Fahrradkette. Abgerackert und sauer stapfte Hildegard schließlich die Treppen hinauf. In der Wohnung roch es nach Chips und Schnaps. Im Fernsehen lief die Wiederholung des Skifliegens von Planica. Noch wirkte der Slowene angespannt. Noch hofften andere. Er stieß sich ab, sprang, flog und siegte. Doch diesmal blieb Fritze liegen.

Als Hildegard das Wohnzimmer betrat, schnarchte er friedlich vor sich hin. Sie hatte große Lust, ihn wie diesen Kloschläfer aus dem Haus zu werfen, da fiel ihr Blick auf den Couchtisch, wo Sprottenpeter hockte, nackt und scheinbar schwerelos. Kein Zweifel: Er flog.

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