: "Eine halbe Seite geht"
Analphabetismus II Wie man sich über Politik informiert, wenn man nicht lesen und schreiben kann
Wie kommen Analphabeten im Leben zurecht? Der folgende Interviewpartner möchte anonym bleiben. Aufgrund einer körperlichen Behinderung benötigt er im Alltag Assistenz. Beim Lesen und Schreiben von Texten hat er Defizite. Er ist funktionaler Analphabet.
Inwiefern können Sie lesen?
Ich lese ungefähr so wie ein Erstklässler. Also sehr stümperhaft. Texte mit großen Buchstaben, Finger unter die Zeile legen. Eine halbe Kinderbuchseite kann ich schon lesen, aber dann lässt die Konzentration nach.
Wie kommen Sie im Alltag zurecht?
Ich benutze häufig Vorleseprogramme. Meine Assistenten und meine Frau lesen mir aber auch viel vor. Erotische Texte lasse ich mir aber ungern vorlesen. Manchmal ist es schon anstrengend, etwa wenn ich meinen Kindern etwas vorlesen möchte. Das geht dann nicht. Generell bin ich tough genug, um Hilfe anzunehmen. Ich kenne auch Legastheniker und Analphabeten, die ihre Rechte nicht einfordern und darunter leiden.
Wie informieren Sie sich über politische Themen?
Ich nutze alle modernen Medien, die es gibt. Politik ist mir sehr wichtig, da bin ich auch auf dem Laufenden. Wenn es direkt um Inhalte von Parteien geht, dann lasse ich mir die Wahlprogramme von meinen Assistenten vorlesen. Noch besser wäre es, wenn es die auch als Hörbücher geben würde. Wenn man sich bemüht, dann kommt man auch mit mangelhafter Lesekompetenz gut an Informationen.
Wie läuft die Wahl bei Ihnen ab?
Wahlzettel kann ich lesen, aber ich habe sowieso immer vertrauensvolle Assistenten um mich herum. Sie gehen mit mir in die Kabine und lesen mir die Abgeordneten vor, die für meinen Bezirk kandidieren.
Interview: Annika Möller
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