Menschen mit Behinderung: Starke kleine Schwestern

Sind die Geschwister behindert, läuft vieles im Alltag anders. Vor allem im Alter wächst die Verantwortung der Angehörigen.

Zwei ältere Menschen lehnen ihre Köpfe aneinander. Einer von beiden hat das Downsyndrom.

Joachim schafft es, jedes Gespräch auf Fußball zu lenken Foto: Stefan Polster

BERLIN taz | Den grünen Teppich hat sie vor sechs Jahren ausgerollt. Als flauschiges Fußballfeld liegt er vor dem Bett mit dem Borussia-Dortmund-Bezug, in dem niemand schläft. Dennoch wäscht Renate Kratschmer alle paar Monate die Laken. Sie will vorbereitet sein.

Schirmmützen mit Fußballmotiven, Fanketten der Nationalelf und ein Fernseher warten in dem 15 Quadratmeter großen Zimmer. Warten auf Joachim, ihren großen Bruder mit Downsyndrom. Sobald die 88 Jahre alte Mutter nicht mehr kann, wird Renate ihr Versprechen einlösen und Joachim aus dem bayerischen Frankenwinheim zu sich holen. „Das ist der Moment, vor dem ich mein Leben lange Angst hatte“, sagt sie.

Renate Kratschmer ist jetzt 60 Jahre alt. Sie führt ein volles soziales Leben mit Kino, Konzerten und Kurzurlauben an der Ostsee. Das wird sie umkrempeln müssen. Doch sie will nicht wie die Mutter werden. „Sie hat ihr Leben für ihn geopfert.“ Und sie nimmt dem Sohn zu viel ab, findet Renate Kratschmer. „Sein Brot werde ich ihm nicht schmieren, das kann er auch allein.“

Johannes liebt das Autofahren

Sie hofft, in Berlin Kontakte für Joachim zu finden, vielleicht jemanden, der mit ihm zu Herta-Spielen geht. In seinem Heimatdorf ist er gut integriert, jeder kennt den kleinen Mann mit dem unbeschwerten Witz und den blauen Knopfaugen. Seinen 60. Geburtstag hat er mit 100 Gästen gefeiert, im SV Frankenwinheim ist er Linienrichter. Der Abschied wird nicht leicht.

Wenn Ulrike ihren Bruder besucht, packt sie ihn in ihr Auto und fährt los. Egal wohin. Johannes liebt Autofahren – liebt das Surren und Vibrieren des Motors, die Fahrtbewegung, vorbeiziehende Häuser und Felder. Johannes kann sich nur brummend, quietschend und summend mitteilen. Aber er liebt Musik, vor allem entspannende, ätherische Klänge.

Ulrike ist 24; ihren Nachnamen will sie nicht nennen. Das, was sie sagt, soll sich nicht auf den Umgang der Pfleger mit ihrem Bruder auswirken. Johannes ist zwei Jahre älter und schwer mehrfachbehindert. Ulrike hat nur die ersten vier Jahre mit ihm unter einem Dach gelebt. Mit sechs gaben die Eltern ihn in eine Wohneinrichtung.

Therapien für Autisten

Zwar fühlt sich Ulrike ihm sehr nah, dennoch möchte sie im Herbst nach Oldenburg oder Hannover ziehen, um dort zu studieren. „Meine Eltern sind für ihn verantwortlich. Ich habe erst mal nur Schwester zu sein. Und Geschwister wohnen unter Umständen weiter weg voneinander.“ Auch dann, wenn nur eines der Geschwister dieses „Weiter weg“ überbrücken kann.

Johannes hat Kraft. Die setzt sich frei, wenn er sich missverstanden fühlt

Die räumliche Distanz ändert nichts daran, dass die Beziehung zu ihrem Bruder Ulrikes Berufswahl beeinflusst hat, ebenso wie Renate Kratschmer arbeitet sie mit behinderten Menschen. Vor ein paar Wochen haben sie sich im „GeschwisterNetz“ angemeldet. Mitte Dezember hat die Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. das soziale Netzwerk gegründet.

Zielsicher scrollt Ulrike auf ihrem Smartphone durch die Posts, während sie in weiten Pluderhosen auf dem Stoffsofa sitzt. Zusammen mit ihrem Freund wohnt sie im Nordosten Berlins in einer hellen Altbauwohnung mit Holzdielen. Zucker und Müsli haben sie in Glasgefäße abgefüllt, neben dem vollen Bücherregal baumelt eine rote Lichterkette. Gerade hat die zierliche Frau in einem Forum des GeschwisterNetzes auf die Frage geantwortet, welche Therapien bei Autismus erfolgreich seien. Sie arbeitet in einem Wohnheim für Autisten.

Fürsorge als Vorwurf

Detailliert und ein wenig ungehalten hat sie geschrieben, dass man Autismus nicht wegtherapieren kann. Fragen wie diese regen sie auf. Schon in der Schule hat sie gefordert, dass „Behinderung“ thematisiert wird. Diskriminierende Bemerkungen wie „Du bist doch behindert!“ brüsk weggebügelt. Ihr letzter Freund hat nichts davon verstanden, warf ihr vor, ihr Leben als Heilerziehungspflegerin wegzuschmeißen, nur „Ärsche abzuwischen“. Daran zerbrach die Beziehung. Ihr jetziger Freund arbeitet im selben Bereich wie sie.

Über die Arbeit bei einer Filmförderung und als Taxifahrerin hat auch Renate Kratschmer mit 40 beruflich dorthin gefunden. Das Pädagogikstudium, für das sie mit 20 nach Berlin gezogen war, hat sie nie abgeschlossen, die Eltern damals schwer enttäuscht. Nachdem der erste Sohn nichts geworden ist, hätte sie es retten müssen, so sahen sie es.

In einer Wohnstätte der Lebenshilfe Berlin tut Renate Kratschmer heute das, was sie am besten kann: sich kümmern. Sie trägt ihre silbrig weißen Haare kurz, dazu eine sportliche Reißverschlussjacke und dunkle Jeans. Mit dem Kümmern hat sie schon als Kind in der Dorfgrundschule begonnen. Ihr Bruder konnte die nur besuchen, weil der Vater vor einem Sozialgericht dafür gekämpft hatte.

Immer ein Legostein in der Hand

Dreimal musste Joachim das erste Schuljahr wiederholen. Erst als Renate neben ihm saß, hat er von ihr Lesen und Schreiben gelernt. Heute engagiert sie sich für Flüchtlinge, betreut ehrenamtlich Kalle, einen 51 Jahre alten Mann mit geistiger Behinderung, und geht mit Mikey spazieren, dem Jack Russel einer gebrechlichen Nachbarin.

Der kleine Hund zerrt an seiner Leine. Behutsam zieht Renate Kratschmer ihn in die andere Richtung. Mikey schnuppert am Bordstein, ein paar Meter vor Renate Kratschmers Stammlokal Robbengatter. Dorthin geht sie oft, wenn der BVB spielt. „Damit ich mit Joachim reden kann.“ Denn der schafft es, jedes Gespräch irgendwie auf Fußball zu lenken. Anstrengend ist das. Doch bei seinem sonnigen Charme sieht ihm die kleine Schwester sehr viel nach.

Ulrikes Bruder hält in der einen Hand immer einen Lego-Duplostein, je nach Stimmung eine andere Farbe. Gerade geht es ihm nicht gut. Im November hat er sich das erste Glied des Mittelfingers abgebissen. An seiner linken Hand. Ausgerechnet – die gute Hand. Auf Ulrikes Schock folgte Mitleid, dann Wut. Denn die Ärzte hatten Johannes’ Beruhigungsmittel viel zu hoch dosiert. Seine Sensorik war futsch. Als er sich den Finger abgeknabbert hat, konnte er das nicht einmal spüren. Ulrike sucht jetzt ein neues Wohnheim für ihn.

Verhinderte Möglichkeiten

Für junge Geschwister von Menschen mit Behinderung gibt es viele Angebote. Erwachsene Geschwister waren lange kaum ein Thema, jetzt rücken sie in den Fokus. Die Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V. hat im Dezember das Soziale Online-Netzwerk „GeschwisterNetz“ gegründet. Auch der Blog „Erwachsene Geschwister“ ermöglicht Austausch, dort werden zum Beispiel Stammtische organisiert.

Johannes hatte als Säugling eine Hirnhautentzündung, die führte zu einer schweren geistigen Behinderung mit autistischen Zügen und Epilepsie. Er kann gehen, aber nur unsicher, braucht Hilfe beim Essen und Trinken, kann sich nicht alleine anziehen und nicht alleine aufs Klo.

Noch lebt er eine gute Stunde Fahrt von Berlin entfernt, in Brandenburg. Wenn Ulrike erzählt, dass sie es nur alle zwei, drei Monate schafft, ihn dort zu besuchen, spricht sie schneller. Das schlechte Gewissen schwingt mit. Eigentlich ist sie pragmatisch. Aber manchmal, wenn sie in Johannes’ Gesicht blickt, sieht sie all die verhinderten Möglichkeiten: „Wenn er keine Behinderung hätte, hätte er wahrscheinlich im Teenageralter andauernd neue Freundinnen abgeschleppt.“

Johannes hat Kraft. Die setzt sich unkontrolliert frei, wenn er sich missverstanden fühlt. Dann beißt er, kneift, stößt mit dem Kopf. Meist merkt Ulrike vorher, wenn er komisch guckt. Wenn alles gut ist, greift er ihre schmale Hand und stützt sich darauf.

Trennung, Haus weg, Panik

Renate Kratschmer hat 18 Jahre in einer Beziehung gelebt. Zusammen hatten sie ein Haus mit Garten in Berlin-Spandau gekauft – mit Zimmer und Bad für ihren Bruder. Jeden Sommer kam er einen Monat zu ihnen. Dann vor acht Jahren: Trennung, Haus weg, Panik: Was wird einmal aus Joachim?

Ihre Mutter hat ihr beim Kauf einer Wohnung in Berlin Schöneberg geholfen – „damit Joachim ein Zuhause hat“. Doch das lag immer in Frankenwinheim. Als er volljährig wurde, hatten die Eltern nach einem Wohnheim gesucht. In den 1970ern oft lieblose Orte. Dorthin sollte Joachim nicht. Das ist heute anders. Doch mit 63 Jahren will er nicht mehr. Er will nach Berlin zu Renate. „Ich habe ein bisschen Angst, weil es ein großer Einschnitt in mein freies Leben wird. Aber ich schaff das schon, ich schaff ja immer alles.“

Nach ihrer größten Angst gefragt, erwidert Ulrike etwas Überraschendes: „Selbst ein Kind mit Behinderung zu bekommen.“ Sie sagt das prompt und leicht trotzig. Denn auch, wenn sie Johannes nie bei sich aufnehmen wird, die rechtliche Verantwortung wird sie später tragen. „Zwei Menschen mit Behinderung und erhöhtem Hilfebedarf, das wäre ein ganz schwerer Klotz, der auf einem lastet.“

Unkraut jäten, Fenster putzen, Vorhänge waschen

Renate Kratschmers Verantwortung wächst täglich. Sie verbringt seit zehn Jahren fast ihren ganzen Jahresurlaub in dem ehemaligen Bauernhaus in Franken statt an der Ostsee. Alle zwei Monate fährt sie eine Woche zur Mutter, die immer schlechter zu Fuß ist und nicht Auto fahren kann. Dann jätet Renate Unkraut, putzt Fenster, wäscht Vorhänge, fährt Mutter und Bruder zu Arztterminen. Doch das System ist fragil, das Handy immer in Griffweite.

Wenn es vibriert und die Vorwahl „0 93 82“ aufleuchtet, dreht sich ihr Gedankenkarussell: Was wird passieren, wenn die Mutter stirbt und Joachim zu ihr kommt? Wenn die Panik zu groß wird, hört sie auf zu denken. Die Mutter hat ja versprochen: „Ich lebe so lange, bis du in Rente gehst.“

Noch fünfeinhalb Jahre. Anna Kratschmer wäre dann fast 94. Vor drei Wochen dachte Renate Kratschmer: Jetzt. Die Mutter kam mit Wasser in der Lunge und Nierenversagen ins Krankenhaus. Kurz danach ihr Bruder: Verdacht auf Thrombose. Das Schreckensbild: zwei Pflegefälle. Doch beide haben sich wieder hochgerappelt. Renate Kratschmer hofft, dass sie den März noch hat, den April, den Mai – vielleicht schafft sie es diesen Sommer noch an die Ostsee.

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