: „Wir formen Erlebnisse“
Spieltheater Bomben entschärfen, Börsengewinne erzielen, Flüchtlingscamps organisieren: Darum drehten sich bisher die Games von machina eX, die sich jetzt im HAU 3 der Geschichte von WikiLeaks zuwenden
von Tom Mustroph
Seit fünf Jahren ungefähr sind sie Stammgast im HAU: das Kollektiv machina eX. Die Interaktion ist ihr Markenzeichen, die Spiele von machina eX sind Hybriden. Sie verbinden Narrative von Thriller, Science Fiction oder Detektivroman mit der Rätsellösungsstruktur von Computerspielen und den Grundprinzipien des Theaters. Dabei kommt es zu unterschiedlichen Verhaltensweisen, die von den Freizeitvorlieben der einzelnen Mitspieler, Zuschauer und Performer determiniert sind.
Die eher theateraffinen Besucher der Spiele stehen oft am Rande, während die gameerfahrenen sich auf die Rätsel stürzen und so die Geschichte vorantreiben. „Am Ende ist es dann aber so, dass die Leute aus dem Theaterbereich das Geschehen noch einmal rekapitulieren und die Gamer sagen: ‚Oh, danke, das habe ich gar nicht mitbekommen, weil ich mich so auf die Rätsel konzentriert habe‘“, erzählt Machina-eX-Dramaturgin Clara Ehrenwerth. Sie strahlt dabei darüber, dass das Beste aus zwei Welten hier regelmäßig zusammenfindet.
Manchmal haben Theaterleute auch einen Vorteil im Spiel – altersbedingt. „Bei einem unserer Games hatten wir ein Telefon mit einer Wählscheibe. Die jüngeren Spieler kannten die Technologie nicht; sie tippten erfolglos auf die Ziffern, bis dann jemand, der bislang am Rande stand, die Wählscheibe drehte“, berichtet Philip Steimel. Er ist Mitbegründer der Truppe, die 2010 in Hildesheim zusammenfand, am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur. Sie zeigen ihre Produktionen regelmäßig in Berlin und Düsseldorf und sind zu Festivals eingeladen.
Sammelsurium derTechnologiegeschichte
Die Interfaces von machina eX sind ein munteres Sammelsurium der Technologiegeschichte. Neben Telefonen mit Wählscheiben tauchen Tonbänder und Disketten auf. Faxgeräte und Kopierer sind im Spiel, aber auch Aktenordner, Briefe, die in Geheimschrift geschrieben sind, Stift und Papier. Zuweilen müssen Chemikalien zusammengerührt werden, um die Protagonisten, die von Performern aus dem achtköpfigen Team verkörpert werden, vor Krankheiten zu bewahren, in ihnen Erinnerungen zu evoziieren oder ihr Bewusstsein zu erweitern. All das setzt individuelle Neugier und ein bestimmtes Maß an Kooperation voraus.
Die Gruppendynamiken zu beobachten ist für die Truppe, die über Kameras das Geschehen verfolgt, die größte Belohnung. „Wir haben das Privileg, die wohl einzigen Spieledesigner zu sein, die ihren Spielern zusehen können. Entwickler von Computergames erreichen zwar wesentlich mehr Leute, sie haben aber eher selten die Gelegenheit, sie beim Spielen zu sehen“, freut sich Steimel. Er hat zudem eine Annäherung beider Welten im Laufe der Jahre beobachtet. Kommt machina eX selbst trotz ausgepräger Game-Neigung der Gründungsmitglieder noch aus dem Theaterkosmos, so gehören realweltliche Prototypen immer mehr zum Handwerkzeug von Entwicklern digitaler Games. „In der digitalen Welt muss man den Raum erst in allen Einzelheiten programmieren, in der physischen Welt kann man mit Menschen, die denken, sofort anfangen“, benennt Steimel die Vorteile.
Das aktuelle Stück, „Lessons of Leaking“, das ab Freitag im HAU 3 gastiert, nimmt die Geschichte von WikiLeaks als Grundlage und verknüpft sie mit einem ethischen Dilemma: Wie geht man mit geheimen Dokumenten um, wie verhalten sich Informationsfreiheit und Entscheidungsprozesse in der Demokratie zueinander. „Politiker lernen, wie man Konsens jenseits der Repräsentationsdemokratie herstellen, aber auch Dissens aushalten kann. Hacker können checken, welche schlimmen Hackerklischees wir bedienen, aber auch einiges für die Debatte über Leaking und Informationsfreiheit mitnehmen. Gamer können im Realraum Kooperationen herstellen, die digital nur schwer zu erreichen sind“, machen Steimel und Ehrenwerth ihr Game verschiedenen Nutzergruppen schmackhaft.
Einen eher unheimlichen Aspekt gibt es auch. „Wir haben es nicht beabsichtigt, aber das Spiel hat sich inzwischen so entwickelt, dass Menschen, die die politischen Positionen der AfD teilen, gute Chancen haben zu gewinnen“, meinte Steimel im taz-Gespräch noch vor den letzten Landtagswahlen. „Lessons of Leaking“ ist also auch ein Test für die AfD-Affinität jedes einzelnen Spielers.
Bisher stehen 18 Games auf der Werkliste zu so unterschiedlichen Themen wie Bomben entschärfen, Börsengewinne erzielen, Flüchtlingscamps organisieren und Mordfälle lösen. Die Truppe strebt darüber hinaus ein eigenes Haus an. „Da könnten wir unsere Infrastruktur stehen lassen, alte Spiele am Laufen halten, neue entwickeln, Workshops geben und endlich unsere Software dokumentieren“, blickt Steimel in die Zukunft.
Im HAU 3, 18.–20., 22.–24. 3., 29. 3.–1. 4.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen