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Die erste Tortengrafik

Museum Gleich zwei Ausstellungen in London zeigen Kunst, die den Einfluss des Internets auf unser Leben thematisiert

VON Tilman Baumgärtel

Medienkunst, digitale Kunst, Computerkunst, Netzkunst – Begriffe für die Kunst, die mit den Medien und Geräten arbeiten, die die vernetzte Gegenwart unseres Lebens mitbestimmen, gibt es genug. Aber bisher ist gerade in Deutschland diese Art der Kunst immer ein bisschen wie das missratene Geschwisterkind der „richtigen“ Kunst behandelt worden.

Zwar haben unter dem Label „Post Internet Art“ eine Reihe von Künstlern wie Jon Rafman, Petra Cortright, Oliver Laric oder Alexandra Domanović es geschafft, sich mit Medienkunst im internationalen Kunstbetrieb jenseits der Festivals und Spezialinstitutionen zu etablieren. Aber die Kunst, die in enger Auseinandersetzung mit ihren technischen Medien entstanden ist und die eine bis in die Nachkriegszeit reichende eigene Geschichte hat, wird nach wie vor eher stiefmütterlich behandelt – sei es, weil ihre Präsentation oft einen gewissen technischen Aufwand erfordert, auf den die Kunstinstitutionen nicht immer vorbereitet sind, sei es, weil sie in einer Ausstellungslandschaft, die gerade in Deutschland immer stärker vom Kunstmarkt bestimmt wird, eben nicht den Glamour verbreitet, den erfolgreich bei Galerien verkaufende Künstler haben.

In London sind nun gleich zwei große Ausstellungen zu sehen, die – teils mit ein und denselben Künstlern – genau die Art von medienreflexiven Arbeiten zeigen, die in Deutschland, aber auch etwa in den USA eher keine Rolle spielt. „Electronic Superhighway“ in der White­chapel Gallery ist ein wüster, überbordender Parforceritt durch die Geschichte der Computerkunst seit den 1960er Jahren, „Big Bang Data“ im Somerset House beschäftigt sich mit dem Sammeln und Auswerten von großen Datenmengen, die Unternehmen wie Google und Facebook zu globalen Marktführern gemacht haben.

Videokunst aus den 70er Jahren bleibt vollkommen ­unkommentiert

„Electronic Superhighway“ ist eine Materialschlacht, die in vier großen Sälen 130 Arbeiten zeigt. Das gehorcht eher der Logik der Aufzählung, die entsprechend keine kohärente These entwickelt. Im ersten Raum wird man von einer wahren Wunderkammer von Werken empfangen, die sich gegenseitig überdröhnen. Das soll nach dem Willen von Kurator Omar Kholeif den Angriff auf unsere Sinne verdeutlichen, den Internet und soziale Medien darstellen, führt aber in der Praxis dazu, dass die Arbeiten sich gegenseitig die Aufmerksamkeit stehlen.

Dass uns bei „Homo Sacer“ von James Bridle das Hologramm einer freundlichen jungen Frau erklärt, warum dem Terrorverdächtigen Mohamed Sakr die britische Staatsbürgerschaft entzogen wurde, muss man wissen, verstehen kann man sie nämlich leider nicht. Vollkommen gehen in dem Chaos zum Beispiel die digital zerlegten Porträtbüsten von Jon Rafman unter oder die Installation aus Computergrafikelementen von Katja Novitskova. Die eignen sich allerdings prächtig als Hintergrund für die Selfies, die das vorwiegend junge Publikum vor ihnen schießt. Dass sie aber eine Antwort auf die Frage geben, wie das Internet die Kunst verändert hat, wie es im Ausstellungskonzept heißt, darf bezweifelt werden – zumal viele Arbeiten nur deswegen in der Ausstellung zu sein scheinen, weil sie von bekannten Künstlern stammen. Dazu gehören zum Beispiel die konzeptionell schlichten digitalen Porträts, die der Schriftsteller Douglas Coupland (“Generation X“) produziert hat. Auch das Gemälde von Albert Oehlen, das in den 90er Jahren mit einem einfach Mac-Grafikprogramm entstand, hat über die Bedeutung des Internets für die Kunst nur wenig zu sagen.

Für Nichteingeweihte unverständlich dürfte die Präsentation von historischen Netzkunstarbeiten von JODI, Heath Bunting oder Jan Robert Leegte sein, denn die werden merkwürdigerweise zum größten Teil als Videos präsentiert, die ihren interaktiven Charakter unterschlagen. Eine ganze Wand von Monitoren, die Videokunst aus den 70er Jahren zeigen, ist vollkommen unkommentiert, und so kann man nur darüber rätseln, wie sich etwa „Boomerang“ (1974) von Richard Serra und Nancy Holt oder „Electronic Linguistics“ (1978) von Gerry Hill in die Ausstellung verirrt haben. Hier hat jemand ganz offensichtlich seine Hausaufgaben gemacht, so der Gesamteindruck, ist aber vom reichhaltigen Stoff überwältigt worden.

Ganz anders ist das bei „Big Bang Data“: ein klares Thema, eine gut kuratierte Auswahl von Arbeiten, von denen viele eigens für die Show entstanden sind, und eine mustergültige Aufarbeitung der Ausstellung auf der Website des Museums. Thomson & Craighead fangen beispielsweise Twitter-Nachrichten aus der Nachbarschaft des Museums ab, um daraus ein Datenbild von London zu schaffen. Die italienische Hacker-Künstler Paolo Cirio und Alessandro Ludovico haben aus geklauten Facebook-Profilen ein eigenes Datingportal getürkt. Und Heather Dewey-Hagborg hat aus DNA-Spuren, die sie von auf der Straße aufgelesenen Kaugummis und Zigarettenkippen hatte, mit dem 3-D-Drucker die Gesichter derjenigen rekonstruiert, die sie ausgespuckt haben.

Wem das nicht gruselig genug ist, kann sich noch mal die Interviews ansehen, die Laura Pointras mit Edward Snowden geführt hat. Und dass Florence Nightingale ihre Daten über die Todesursachen im Krimkrieg mit der ersten Tortengrafik der Menschheitsgeschichte visualisiert hat, lernt man bei der Gelegenheit auch noch.

„Big Bang Data“ zeigt, dass Ausstellungen mit digitaler Kunst von einigen der wichtigsten Themen unserer digitalen Lebenswelt sprechen können, ohne sich in Technikspielereien zu verlieren – möglicherweise sogar besser als Ausstellungen mit traditioneller Kunst. Umso bedauerlicher, dass sich in Deutschland so selten jemand an derartige Ausstellungsideen herantraut.

„Big Bang Data“ bis zum 20. März, Somerset House; ­“Electronic Superhighway“ bis 15. Mai, Whitechapel Gallery

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