Versöhner zwischen den Fronten

Am Sonntag erhält der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Nicht nur für manche in der Türkei ist das ein Problem – auch eine gewisse Zeitung aus Frankfurt grämt sich darüber, dass Pamuk sich als Autor den klaren politischen Konfliktlinien entzieht

Pamuk wäre sehr gerne der erste türkische Schriftsteller von Rang, der nicht eine Haftstrafe antreten muss

VON DANIEL BAX

Orhan Pamuk, der an diesem Wochenende den Friedenspreis des deutschen Buchhandels entgegennimmt, ist ein freier Mann. Noch. Wenn am 16. Dezember vor einem Bezirksgericht in Istanbuler Stadtteil Sisli der Prozess gegen ihn beginnt, könnte sich das allerdings ändern. Drei Jahre Haft fordert die Staatsanwaltschaft in Istanbul für Pamuk wegen dessen angeblicher „Beleidigung der Türkentums“. In einem inzwischen berühmt gewordenen Interview mit einer Schweizer Zeitung, in dem Orhan Pamuk von dreißigtausend auf dem Boden der Türkei ermordeten Kurden und einer Million ermordeten Armeniern sprach, glaubt sie eine solche „Beleidigung“ zu erkennen, offenbar mehr als in den Taten selbst.

Die Anklage ist Ausdruck jenes alten nationalistischen Geists, der noch in Teilen der türkischen Staatsbürokratie weht. Französische Intellektuelle haben sich schon mit Orhan Pamuk solidarisiert, und Salman Rushdie hat jüngst an die Verantwortung der Europäer appelliert, dem bedrohten Autor zur Seite zu stehen. Auch die EU hat der Türkei bereits klar gemacht, dass sich ein solcher Prozess kaum mit den Aspirationen des Landes auf eine Vollmitgliedschaft verträgt. Grundlage der Anklage ist der neue Paragraf 301 des Strafgesetzbuchs, der pikanterweise erst am 1. Juni 2005 in Kraft getreten ist. Er ersetzt den berüchtigten Paragrafen 159, mit dem bisher schon viele Journalisten und Schriftsteller, darunter auch der letzte türkische Friedenspreisträger Yasar Kemal, angeklagt worden waren. Will die Türkei ernsthaft in die EU, wird sie auf solche Gesetze irgendwann wohl ganz verzichten müssen.

Es sind diese Umstände, die den Friedenspreis für Orhan Pamuk zu einem Politikum machen. Und es ist anzunehmen, dass es gerade erst die Angriffe türkischer Ultranationalisten gegen Pamuk waren, die der Jury den entscheidenden Anstoß gaben, ihm den Friedenspreis zuzuerkennen, den der 53-jährige Autor schon für sein literarisches Werk längst verdient hätte. Der Wirbel um seine Person erscheint insofern als eine Ironie des Schicksals, als dass sich Orhan Pamuk nie als dezidiert politischer Schriftsteller verstanden hat. Zwar hat er, angefangen bei Salman Rushdie, noch jede Petition für einen verfolgte Kollegen unterschrieben und auch schon mal aus politischer Überzeugung einen Staatspreis ausgeschlagen. Doch in seinen Büchern, in denen er sowohl das Erbe der osmanischen Tradition wie auch die Segnungen der westlichen Moderne pries, lag er stets quer zu allen politischen Lagern. Das gilt erst recht für seinen Roman „Schnee“, den er selbst als seinen ersten politischen Roman bezeichnet.

Als das Buch vor drei Jahren in der Türkei erschien, dürfte es säkulare Intellektuelle wie Nationalisten verärgert haben, justiziabel erschien es damals niemandem. Nach seinen Äußerungen im Zürcher Tages-Anzeiger hat er sich in der Türkei die Unterstellung eingehandelt, er würde „all das“ nur tun, um irgendwann den Nobelpreis für Literatur zu bekommen: Darin schwingt der Missmut darüber mit, dass ausländische Autoren in Europa oft eher wegen ihres politischen Engagements denn aufgrund ihrer literarischen Qualität wahr genommen und anerkannt werden; der Fall Pamuk scheint das zu bestätigen.

Doch offenbar ist die Preisverleihung für Orhan Pamuk nicht nur für manche in der Türkei ein Problem – auch eine gewisse Zeitung aus Frankfurt hadert mit dem Preisträger. Das Buch war noch gar nicht auf Deutsch erschienen, da war es der FAZ im vergangenen Herbst bereits eine erste Besprechung wert. Unter dem Titel „Warnung vor der Türkei“ wurde es denn auch genau so gelesen. Schließlich schien der meisterhaft komponierte Roman, der blutige Auseinandersetzungen zwischen Islamisten, Säkularisten und kurdischen Nationalisten in der entlegenen Provinzstadt Kars am äußersten Rand der Türkei schildert, all jenen Recht zu geben, welche die Türkei als unreif für die EU betrachteten.

Aber ein Roman als Anklageschrift gegen einen EU-Beitritt der Türkei? Orhan Pamuk hat sich mehr als einmal gegen diese Lesart verwahrt (zuletzt in einem Interview mit dem Spiegel), indem er darauf verwies, dass es sich um einen „historischen Roman“ handele – auch wenn die Zeit, in der er spiele, lediglich acht Jahre zurück liege. Doch seitdem, so Pamuk, habe sich in der Türkei einiges getan. Dass manche Geister von damals allerdings noch nicht gebannt sind, zeigt die Anklage gegen ihn am deutlichsten.

Vielleicht hat Orhan Pamuk damit die FAZ in Verwirrung gestürzt, vielleicht war es die Frustration darüber, dass sich der Autor nicht so leicht für die eigenen Zwecke vereinnahmen lässt, weil er sich dann doch als erklärter Befürworter eines EU-Beitritts der Türkei entpuppte. Als ihm im Juni der Friedenspreis zugesprochen wurde, fragte Jürgen Kaube in der FAZ deshalb noch einmal nach, wofür Pamuk denn nun eigentlich stehe. Andere Preisträger hätten schließlich anhand klarer Konfliktlinien Position bezogen. Die Preisvergabe an Pamuk dagegen „könne nicht auf die gleiche Weise als politisch bezeichnet werden“, weil sich der Autor solchen Konfliktlinien entziehe. Könnte es nicht sein, dass dies gerade seine politische Qualität ausmacht, in seinen Büchern scheinbare Gegensätze wie Orient und Okzident, „Islam“ und „Westen“ zu versöhnen?

Nachdem Orhan Pamuk zuletzt im Interview mit dem türkischen CNN-Ableger seine inkriminierten Äußerungen kommentierte und klarstellte, dass er zwar vom Massenmord an den Armeniern, nicht aber von „Genozid“ gesprochen habe, legte die FAZ in dieser Woche noch einmal nach. Da Pamuk nicht von „den Türken“ als Tätern sprach und die gefallenen Soldaten des osmanischen Reichs als „Märtyrer“ bezeichnet haben soll, glaubt sie darin eine Relativierung seiner bisherigen Aussagen zu erkennen. So geißelt die FAZ nun die „schnelle Schlauheit Pamuks“, der es offenbar doch nur auf den Nobelpreis abgesehen habe, und fürchtet, dass nun „der ganze Friedenspreisträger zu verschwinden droht“.

Bei näherer Betrachtung bleibt von solchen Verdächtigungen wenig mehr als der übliche schale Nachgeschmack übrig. Tatsächlich ist es mehr als nur bloße Haarspalterei, ob man nun von Massenmord oder von Genozid spricht, zumal in der Türkei mit Letzterem die Furcht vor drohenden Entschädigungsforderungen verbunden wird. Aus dem gleichen Grund ist es für viele Türken von zentraler Bedeutung, die Verantwortung dafür nicht allgemein „den Türken“, sondern eben dem Osmanischen Reich anzulasten. Und zuletzt ist der Begriff „Sehit“, den man auch mit „Märtyrer“ übersetzen kann, im Türkischen der gebräuchliche Ausdruck für einen im Kriege gefallenen Soldaten. Darin einen Ausdruck der Glorifizierung zu erkennen ist so weit hergeholt, wie hierzulande jedes „Gott sei Dank“ als Ausdruck einer tiefen religiöser Überzeugung zu werten. Was sollen die Anwürfe also? Will uns die FAZ damit sagen, Pamuk solle für seine Überzeugungen gefälligst in Gefängnis gehen? Und wenn ja: zu wessen Nutzen?

Es ist schon erstaunlich, mit welcher Chuzpe manche Salonjournalisten von anderen einen Mut einfordern, den sie selbst nie unter Beweis stellen mussten. Orhan Pamuk wäre sehr gerne der erste türkische Schriftsteller von Rang, der nicht eine Haftstrafe antreten muss – und das nicht nur aus persönlichem Selbstschutz, sondern auch, weil dies ein Zeichen für den Fortschritt in der Türkei wäre. Ein Schriftsteller zu sein, für den „Westen“ und „Islam“, „Orient“ und „Moderne“ oder „Meinungsfreiheit“ und „Türkei“ keine unüberwindbaren Gegensatzpaare sind: Das ist offenbar mehr, als mancher nicht nur in der Türkei vertragen kann.