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Im Anwohnerpark

MANJA PRÄKELS

Teil 26: Was nicht ist, ist aber möglich!

Dass man überhaupt so weit gucken kann!“

„Wann warst du denn das letzte Mal aus der Stadt raus?“

„Als Kind vielleicht. Kann mich nicht erinnern.“

„Von einem Hochhaus kann man doch auch weit gucken.“

„Aber das ist nicht dasselbe.“

Der Storchenmann hatte begonnen, seinen Horst vor den Toren Berlins zu entrümpeln. Er war noch früher heimgekehrt als letztes Jahr. Im Laden des Biobauernhofs, der die einzige Einkaufsmöglichkeit weit und breit und zudem mit einem kleinen Ausschank bestückt war, berichteten die Dorfbewohner einander aufgeregt, wo Hermann, wie sie ihren alten Storch liebevoll nannten, gesichtet worden war. In Wald und Flur sammelte der große Vogel Baumaterial und hielt Ausschau nach der Angetrauten. Lale, die notorische Großstadtpflanze und beste ­Tresenkraft desblaulicht, studierte die ungewohnte Umgebung voller Verblüffung und nicht ohne Respekt gegenüber den Eingeborenen. Manchmal saß sie einfach an der Theke, trank Tee und beobachtete die Leute, ihre Gesichter und Hände. Kleine, gedrungene Frauen mit schwieligen Pranken und praktischen Kleidern, die nach Stall rochen, redeten, lachten und gestikulierten miteinander, als gehörte ihnen die Welt. Und ein bisschen stimmte das sogar. Das halbe Dorf war Teil der Genossenschaft, besaß Grund, Boden und Mitspracherechte.

„Lale, hilfst du mal?“

„Klar. Was soll ich machen?“

Hofchefin Rieke konnte sehen, dass es ihrer Besucherin mit jedem Tag besser ging. Doch langsam müsste die Kleine auch mal mit anpacken. Die Frauen im Ort begannen schon zu tuscheln. Hier galt nur etwas, wer arbeitete. Aber woher sollte Lale das wissen?

„Hast du auch eine Abmahnung bekommen?“

„Ja! Angeblich hätt ick mich dem Jespräch entzogen!“

„Genau wie bei mir. Ich hab sogar dem Müll durchwühlt und nichts gefunden, NICHTS!“

„Mir hat ooch keener ’ne Vorladung oder sowat jeschickt. Schönet Ei.“

Zweifelnd standen Hildegard und Anne vor ihren Läden in der kleinen Straße nordöstlich des Alexanderplatzes. War der neue Hausbesitzer doch einer von den dubiosen Halsabschneidern, vor deren Übernahme sie sich so gefürchtet hatten? Ging die Explosion des vergangenen Winters am Ende auf dessen Kappe?

Die Wirtin rang um Fassung. Wehmütig schaute sie durch das Fenster in die Kneipe, auf ihren geliebten Tresen, das Herz des blaulicht.Jetzt nur nicht die Nerven verlieren…

„Dit kann nich stimmen, Anne. Der Vertrag eins a. Los, wir fahren da jetz hin.“

„Jetzt? Nach Charlottenburg?“

„Klar. Mit deinem Auto.“

Anne überlegte nicht lange. So flatterhaft ihr die Nachbarin manchmal erschien, so tatkräftig und klar agierte sie in Momenten wie diesem. Musste eben Nura den Bioladen einmal mehr alleine schmeißen. Die usbekische Studentin der Agrarwissenschaften war Annes persönlicher Sechser im Lotto. Ein Grund mehr, für den Laden zu kämpfen.

„Hildegard?“

„Ja?“

„Was machen wir, wenn es tatsächlich so ist, wenn die uns rausekeln wollen?“

„Papperlapapp.“

Manja Präkels,Jahrgang 1974, schreibt, singt und tourt mit ihrer Band Der Singende Tresen. Soeben erschien beim Verbrecher Verlag die von ihr mit Markus Liske herausgegebene Textsammlung „Vorsicht Volk!“. Seit 2009 betreiben die beiden die Gedankenmanufaktur WORT & TON. Ihr Romandebüt „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ erscheint 2016.

Illustriert wird die „Im Anwohnerpark“-Serie von Maria MacDonald, cargocollective.com.

Der krumme Komponist lag nackt in seinem Flur und lächelte. Im Grunde genommen, waren die Ereignisse der vergangenen Nacht unmöglich gewesen. Zu schön, um wahr zu sein. Sogar falsch. Und doch hatte er es erlebt! „Bozhe moj.“ Nicht nur, dass Mitja aufgetaucht war, einfach so in der Küche und ihm zugewinkt hatte. Nein, es war noch viel seltsamer geworden: Mitja, seine Sonne, sein Freund und Geliebter hatte sich in einen Schmetterling verwandelt, war auf seiner Hand gelandet und hatte mit einer Geste der Verzückung eine Art Goldstaub aus seinen Fühlerchen geschüttelt. Kaum aber war die Haut des Komponisten mit den glitzernden Pollen in Berührung gekommen, wurde dieser Zeuge seiner eigenen, außerordentlichen Verwandlung. Ihm wuchsen Falterflügel! Gemeinsam schwebten sie durch den Raum, kicherten albern und schubsten die Krümel vom Tisch. Dann hatten sie einander bewundert, umarmt und liebkost, zwei kleine, rosa-orange Weinschwärmer, die ihre olivfarbenen Körper aufrichteten und die Flügel aufspannten. Der krumme Komponist tastete vorsichtig seinen Körper ab. Nein. Er war nun kein Schmetterling mehr. Schade.

„Wann wirst du endlich reden, Lale? Ich hab dich gern bei mir, aber irgendwas muss jetzt passieren.“ Rieke deckte das Mädchen zu, wie sie eine Tochter zudecken würde, wenngleich sie keine Kinder hatte, nicht mal in Erwägung zog, sich welche zuzulegen. Sie vermisste nichts. Es war nur so, dass Lale offenkundig Muttergefühle in ihr weckte, die bislang im Verborgenen geschlummert hatten. Wie an jedem Abend der vergangenen Wochen blieb die Kleine stumm, drehte sich zur Wand und murmelte ein leises „Gute Nacht“ ins Zimmer. Draußen schrien die Kälber. Rieke löschte das Licht, zog die Tür hinter sich zu und blieb eine Weile unentschlossen im Flur stehen. Irgendwie beneidete sie das Mädchen um seine ausgeprägte Fähigkeit zu faulenzen. Manchmal würde sie sich am liebsten daneben legen … Unten im Hof fielen nun auch die Ziegen ins Gebrüll mit ein. Fütterungszeit. Keine Pause. Unmöglich.

Die Sonne senkte sich zur Tagesneige. Schon zum dritten Mal kreisten die Frauen auf der Suche nach einem Parkplatz im Kiez umher. Immerhin waren sie nicht umsonst durch die halbe Stadt zur Hausverwaltung gefahren. Die Wirtin des blaulichtwar dort mit so kühner Vehemenz aufgetreten, hatte die verschiedenen Vorzimmerdamen so energisch wie unterhaltsam belagert, dass tatsächlich eine der schweren Türen für sie aufgegangen war – mit Erfolg. Während Beifahrerin Hildegard trotzdem weiter auf die Ungerechtigkeit der Welt schimpfte – „Und die Chefs sind immer Kerle!“ –, parkte Anne den Lieferwagen in zweiter Reihe, gleichgültig, was den drohenden Strafzettel betraf, erschöpft und froh zugleich.

„Kommste noch mit auf ’n Bier?“

„Ich trink doch kein Bier.“

„Na dann bring eben deinen Ökowein mit. Mir doch ejal.“

„Okay. Äh, Hildegard …“

„Ja?“

„Danke.“

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