piwik no script img

Der Messias ist bestimmt Biologe

Literatur Alexander Ilitschewski unternimmt Tiefenbohrungen auf der Suche nach der Wahrheit. Sein Roman „Der Perser“ verspricht monumental eine anstrengende, ausschweifende, ungemein lehrreiche Lesereise

Das Rätsel des Lebens könnte im Erdöl schlummern. Den „Perser“ durchzieht die Sehnsucht nach lebensfähiger Männlichkeit Foto: Alex Webb/Magnum Photos/Agentur Focus

von Eva Behrendt

Gibt es auf unserem Planeten eine Mitte? „Einen Punkt, in dem alle sichtbaren und unsichtbaren Ströme dieser (absoluten) Wahrheit sich vereinen“? Hat Wahrheit überhaupt eine „geografische Dimension“? In Alexander Ilitschewskis monumentalem Roman „Der Perser“ existiert diese Mitte, zumindest für seine beiden Protagonisten, den russischen Icherzähler und Geologen Ilja und den Naturparkheger Haschem, seinen persischen Jugendfreund. Auch wenn es sich weniger um einen Punkt handelt als um eine ganze Region, nämlich die Landschaften an der Südwestküste des Kaspischen Meeres.

„Die vergessene Mitte der Welt“ hieß auch das vorletzte Buch von Stephan Wackwitz, der darin die Kaukasusländer Georgien, Armenien und Aserbaidschan porträtierte. In der Tat liegt sie fernab der westlichen Wahrnehmung, diese teils mystische, teils industriell ausgebeutete Gegend, die sich von der erdölreichen Halbinsel Apscheron mit der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku über die tierreichen Steppen Schirvan und Mugan bis zu den Hyrcanischen Regenwäldern im Norden des Iran erstreckt.

Dabei stoßen am südöstlichen Fuß des Kaukasus nicht nur mehrere Klimazonen aneinander. Hier verlaufen auch gleich mehrere imaginäre Grenzen: zwischen Europa und Asien, Russen, Aserbaidschanern und Persern, zwischen Christentum, Islam, Sufismus, Judentum. Der Garten Eden, behaupten Bibelforscher, soll hier gewesen sein. Und auch wenn die Kriegsschauplätze sich gerade einige hundert Kilometer weiter südwestlich befinden, erscheint diese kaspisch-kauskasische „Mitte“ mit ihrer ethnischen, religiösen, ideologischen Diversität als Bild für einen beträchtlichen Teil der globalen Konflikte.

Alexander Ilitschewski, der mittlerweile in Tel Aviv lebt, ist selbst ein weit gereistes Kind aus dieser Region. Geboren wurde er 1970 in der aserbaidschanischen Erdölförderhochburg Sumgait, in Moskau studierte er Mathematik und Theoretische Physik, in den 1990er Jahren lebte und arbeitete er als Wissenschaftler in den USA und in Israel, und 1998 kehrte er nach Russland zurück, um zu schreiben. Sein 750 Seiten starker „Perser“ ist Teil der Tetralogie „Die Soldaten des Apscheroner Regiments“, deren erster Teil „Matisse“ vergangenes Jahr auf Deutsch erschien.

Auch der „Perser“-Icherzähler Ilja ist auf Apscheron aufgewachsen und hat nach einem naturwissenschaftlichen Studium in Kalifornien gearbeitet. Als ihn dort seine deutsche Frau Therese samt gemeinsamem Sohn verlässt, gerät er in eine heftige Krise, die ihn schließlich an den Ort seiner Kindheit zurückbringt: Nach Aserbaidschan geht er nicht nur im Auftrag der Erdölfirma, für die er Bodenproben analysiert, sondern auch weil Therese mit seinem Sohn und ihrem neuen Partner nach Baku zieht. Doch diese Rahmenerzählung erzeugt keine Spannung und wenig Dynamik; sie ist eher Anlass zu einem ausschweifenden Erinnern bis in die Zukunft.

Bakterie und Kosmos

Als gelte es, „Tausendundeine Nacht“ mit seinen unzähligen Schachtelgeschichten noch einmal neu zu erzählen, erschließt Ilitschewski mit jedem seiner 38 essayistischen Kapitel ein weiteres Stück der Weltmitte am Kaspisee. Sein Erzählanspruch ist dabei total und reicht von der Urbakterie bis zur kosmologischen Theorie, vom ausführlich beschriebenen Maschinendetail bis zur vollen Niederschrift einer Theaterinszenierung. Immer wieder gerät Ilja selbst aus dem Blick und weicht bekannten und unbekannteren Helden der Geschichte – darunter dem plündernden Kosaken Stenka Rasin, dem schwedischen Öl­pionier Robert ­Nobel, dem „deutschen Lawrence“ Wilhelm Waßmuß, dem persischen ­Waldpartisan Mirza Kutschak Khan oder auch dem saudischen „Prinzen“ Osama bin Laden, mit dem Haschem auf Falkenjagd geht. Einzelgänger und Widerständler, Partisanen und Terroristen: sie alle sind letztlich Ausdruck der Unregierbarkeit der Region.

Auch wenn die wenigen Frauen in Ilitschewskis Roman kaum weniger eigensinnig sind als die Männer, durchzieht den „Perser“ die Sehnsucht nach einer unbestechlichen und dennoch lebensfähigen Männlichkeit. Iljas Freund, der amerikanische Militär und Weltenbummler Kerry Nortrup, ­riskiert sein Leben, als er sich in eine minderjährige Aserbai­dschanerin verliebt. Er erinnert Ilja an seinen alten Sowjetsegellehrer Stoljarow, der ihn als junger Mann auf einem geologischen Forschungs-U-Boot unterbringt, wo er realisiert, dass er Erdöl und Erdbewegungen hören kann. Stoljarow ließ sich vom Sturm über Bord fegen. Ein anderer Lehrer, Stein, erinnert mit Ilja und Haschem in einem Theaterprojekt an den revolu­tionär-avantgardistischen Kreis um den futuristischen Dichter Welimir Chlebnikow, auch so ein widerspenstiger Utopist, der nicht einmal vierzig Jahre alt wurde.

Ilja, der zwanghaft fotografiert, glaubt als Kind der Sowjetunion an die positivistische Wissenschaft. Dennoch kehrt er als Suchender zurück. Nicht nach sich selbst (das wäre vermutlich zu westlich), sondern nach den großen Fragen, den kosmischen Zusammenhängen. Dazu sind buchstäbliche Tiefenbohrungen nötig: Er will den Last Universal Common Ancestor finden, die Urbakterie, von der wir alle abstammen und die er im Erdöl vermutet. Haschem wiederum, dessen Familie 1979 aus dem Iran flüchten musste, ist ein Chlebnikow-Verehrer. Im postsowjetischen Schirwan-­Nationalpark hat er eine Gruppe Individualisten unterschiedlichster Kulturen und Religionen um sich geschart: das neue Apscheroner Regiment, einen utopischen Haufen, dem sich Ilja und später sogar Therese anschließen. Man schreibt Gedichte, beobachtet Fauna und Flora, tanzt wie die Derwische und züchtet Kragentrappen, die wegen des arabischen Breitensports Falkenjagd vom Aussterben bedroht sind.

Es geht um die Aussöhnung von Religion und Wissenschaft, den großen Glaubenssystemen: „Ich warte auf den Messias“, sagt Haschem bei einem der vielen Steppengespräche. „Er wird nichts Mystisches an sich haben. Dafür ist er zu vernünftig.“ – „Höchstwahrscheinlich ist er Biologe“, wirft Ilja ein. Haschem weiter: „Gott bedarf nicht der Anbetung. Respekt und Furcht wird er sich selbst verschaffen. Gott braucht den Dialog, verstehst du? Er will, dass wir mit ihm reden. Nicht beten noch betteln. […] Einen Gott der den Fanatismus in seiner geistigen Armut akzeptiert, kann ich nicht akzeptieren.“

Es geht um die Aussöhnung von Religion und Wissenschaft, den großen Glaubenssystemen

Die Pointe von Haschems aufgeklärtem Islam besteht darin, dass er selbst quasigöttlich, zu einem menschlichem Messias wird. Aber auch er fällt am Ende Fundamentalisten in die Hände, in Symmetrie zum Auftakt des Romans, wo Iljas Mutter als sowjetische Junglehrerin in der Provinz ebenfalls am schi­iti­schen Aschura-Fest attackiert wird. Gibt es keinen Ausbruch aus dem Kreislauf der Märtyrertode?

Die Welt als Text

„Tausende Kilometer blättern wir uns durch das Dunkelbuch des Universums. Seite um Seite wird der Süden aufgeschlagen, Feld um Feld – auf jedem Häuser, einzeln oder in kleinen Ansiedlungen wie Buchstaben und Wörter, Punkte dazwischen; kümmerliche Bahnsta­tionen als Bindestriche, Interjektionen, erleuchtete Fenster wie ein kurzes Aufseufzen, und hin und wieder die stählerne Lineatur abzweigender und kreuzender Gleise.“

So erscheint nicht nur die Landschaft im Zug von Moskau nach Baku, sondern auch die ­anstrengende, ausschweifende, ungemein lehrreiche Lesereise durch den Roman. Die Welt als Text, diese alte jüdische Idee mag auch hinter Ilitschewksis Projekt als solchem stehen, das Andreas Tretner mit grandioser Sprachkraft und unerschöpflichem Wortschatz ins Deutsche übersetzt hat. Solange die Welt erzählt werden kann, besteht Hoffnung, und sei es auf einen Messias der Vernunft.

Alexander Ilitschewski: „Der Perser“. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Suhrkamp, Berlin 2016, 750 Seiten, 36 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen