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Abgewürgte Spielkultur

Abstiegskampf Werder Bremen fehlt es beim 2:2 gegen Aufsteiger Darmstadt 98 an Cleverness und vor alleman einem Plan. Und die ansonsten so ausdauernde Geduld der eigenen Fans neigt sich zudem dem Ende zu

Aus Bremen Ralf Lorenzen

Es hatte etwas von einem verfrühten Showdown. Darmstadts Mittelstürmer Sandro Wagner stand an der Strafraumgrenze und wartete darauf, den Elfmeter ausführen zu dürfen. Sein Widerpart in diesem Duell war nicht Werders Torwart Felix Wiedwald, der ihn kurz zuvor leicht am Bein berührt hatte und nun seinen Blickkontakt suchte. Der Gegner war die wütende Ostkurve des Weserstadions, auf die er jetzt schaute und die in diesem Augenblick aus einer Wand von ausgestreckten Mittelfingern, vorgestreckten Oberkörpern und geöffneten Münder bestand. Die Fans in der Kurve nahmen es ihm nicht nur übel, dass er nach der Berührung des Torwarts gefallen war, als sei er von einer Sense umgemäht worden. Sie empfanden es als Anmaßung, dass er sich überhaupt anschickte, Schicksal über den Klassenerhalt ihres Vereins spielen zu wollen.

Vor vier Jahren war sein Gastspiel im Werder-Trikot als großes Missverständnis bewertet worden, „nicht Bundesliga-tauglich“ hieß das fast einhellige Urteil. Dass der schlaksige U21-Europameister von 2009 bereits im Hinspiel gegen die Grün-Weißen doppelt getroffen hatte, wurde noch als Laune der Geschichte abgetan, aber mit jedem weiteren Wagner-Treffer, der in den letzten Monaten gemeldet wurde, nahm das Raunen zu. Als er nun anlief, hofften die meisten noch, er würde den Ball wie bei einer Großchance zuvor in die Wolken dreschen. Stattdessen chipte er die Kugel in die Mitte des Tores – mit einer Lässigkeit, die die Fans im Gefühlschaos von Demütigung und Bewunderung in die Pause entließ.

Dahin war sie, die ungewohnte Führung, die Anthony Ujah nach der einzigen Werder-Chance der ersten Halbzeit erzielt hatte und die dem zerfahrenen Spiel die lange vermisste Ruhe und Stabilität geben sollte. Aber was noch mehr zählte, war die Botschaft, die Art, wie der Strafstoß herausgeholt und ausgeführt wurde: „Wir sind cool und ihr nicht!“ So endete dann auch ein Erklärungsversuch von Werders Kapitän Zlatko Junozovic in dem Fazit: „Uns fehlt in der einen oder anderen Situation die Cleverness.“ Sehr viel Aufwand hatte seine Mannschaft in Hälfte zwei betrieben, etliche gute Chance herausgearbeitet und musste am Ende froh sein, dass Routinier Claudio Pizarro mit einem Willensakt eine Minute vor Schluss wenigstens noch den Ausgleich geköpft hatte. Den Darmstädtern hatten kurz vorher wieder nur drei Berührungen zur Führung gereicht. Rempler gegen Wagner, Freistoß von Tobias Kempe, Kopfball von Aytac Sulu.

Die Diagnose fehlender Cleverness führt direkt zu dem Mann, der bei Werder nicht erst seit diesem Spiel im Mittelpunkt steht: Trainer Viktor Skripnik. Nachdem er die Mannschaft in der letzten Saison „wachgeküsst“ (Marko Bode) hatte, ist sein Zauber nun verflogen. Er hat es bis jetzt nicht geschafft, der Mannschaft einen Spielplan zu vermitteln, den sie über längere Zeit verinnerlichen konnte. Ansätze von Spielkultur wurden immer wieder durch personelle und taktische Veränderungen abgewürgt, die längst nicht nur verletzungsbedingten Ausfällen geschuldet waren. Die Erfahrung zeigt aber, dass sich meist Mannschaften retten, die wissen, was sie zu tun haben.

Den Äußerungen von Sportchef Thomas Eichin zufolge wird Skripnik mit dem Auswärtsspiel bei Bayer Leverkusen zumindest noch eine weitere Bewährungschance erhalten. Der nach den Spielen gegen Hoffenheim und Ingolstadt erneut verpasste Befreiungsschlag gegen einen direkten Konkurrenten um den Klassenerhalt hat die Existenzangst der Bremer allerdings schon jetzt auf eine neue Stufe katapultiert. „Unsere Geduld ist nicht grenzenlos“ stand schon vor dem Spiel auf einem Transparent in der Ostkurve. Wie es aussieht, kann die Mannschaft nicht erneut auf eine kämpferische „Jetzt erst recht“-Stimmung in der Stadt hoffen wie im Abstiegskampf vor zwei Jahren. Die Pfiffe am Ende des Spiels deuten eher darauf hin, dass sie sich diesmal an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen muss.

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