Musik für den Unterschied

VORWÄRTS IMMER 20 Jahre als Labelchef von Warp konnten Steve Becketts Neugierde und seiner Lust an Überraschungen nichts anhaben

Unsere Hits aus 20 Jahren Warp: 1. Aphex Twin: I Care Because You Do 2. Boards Of Canada: Music Has The Right To Children 3. Grizzly Bear: Veckatimest 4. Battles: Mirrored 5. Broadcast: The Noise Made By People

5. Jimi Tenor: Sähkömies 7. Autechre: Tri Repetae 6. Jamie Lidell: Multiply 7. Plaid: Not For Threes 8. Maxïmo Park: A Certain Trigger

■ Veröffentlichungen zum 20. Warp-Geburtstag: „Warp20 (Chosen)“, Höhepunkte, ausgewählt von Fans und Label-Chef Steve Beckett

„Warp20 (Recreated)“, Remixe und Neueinspielungen

„Warp20 (Unheard)“, bislang Unveröffentlichtes (Vertrieb: Rough Trade)

■ Geburtstagspartys in Berlin 4. 12.: Berghain: Battles, Nice Nice, Gravenhurst, !!! (DJ-Set)

11. 12.: Berghain & Panorama Bar: Hudson Mowhawke vs Rustie, Plaid, DJ Andrew Weatherall, Clark, Steve Beckett (DJ-Set) u. v. m.

Steve Beckett arbeitete in einem Plattenladen in Sheffield, und natürlich war er, was die Musik betraf, arrogant. Nichts, so glaubte er, könne ihn überraschen. Die Achtzigerjahre neigten sich dem Ende entgegen, und Beckett war sich sicher: Er hatte die Musik im Griff, sah die Trends voraus.

Doch dann kamen eines Tages, 1987, diese seltsamen Platten aus Chicago und Detroit. Vinyl-Maxis ohne Cover, sogenannte White Labels. Beckett spielte sie und glaubte, er höre nicht recht: Da hatten vollkommen unbekannte DJs aus den USA elektronische Sachen aufgenommen, die so wild und innovativ klangen wie die obskuren Rock-LPs, die Beckett als Geheimtipp an besonders mutige Kunden verkaufte. „Acid House“ hieß das Zeug. Keine Hommage an die Droge, sondern an den Acid Rock, die freieste Spielart des Rock ’n’ Roll.

Steve Beckett staunte: Das war neu. Das war tanzbar. Und das verkaufte sich sogar. „Es fühlte sich wie eine musikalische Revolution an, und ich wollte daran teilnehmen“, erinnert er sich. Beckett spielte zwar auch selber in Bands, doch es fehlte an Talent. Also interessierten ihn vor allem die Labels, die diese Musik auf den Markt brachten. Big Shot, Transmat oder NU Groove – das waren die Vorbilder für seine eigene Marke, die Beckett 1989 zusammen mit einem Kollegen aus dem Plattenladen ins Leben rief. Der Name: Warp. Das Ziel: Musik veröffentlichen, die auf der einen Seite die Tanzflächen der Clubs füllt und auf der anderen Seite so neu und anders ist, dass sie irritiert.

Hart für Boxen und Nerven

20 Jahre sind seither vergangen, und wer sich in dieser Zeit für innovative Musik interessiert hat, weiß, dass Warp dieses Ziel oft erreicht hat: ob mit den Meisterwerken des Label-Genies Aphex Twin, den man in seiner großen Zeit Mitte der Neunziger zum „Mozart der Moderne“ gekürt hatte, oder mit den Aufnahmen des Duos Autechre, die mit ihren Tracks Boxen und Nerven ihres Hörers so lange provozierten, bis der entweder aufgab und die Counting Crows auflegte oder als bekennender Süchtiger jede noch so seltene Maxisingle beim Mailorder bestellte.

Was die meisten Warp-Veröffentlichungen der vergangenen 20 Jahre gemeinsam haben, ist die unbedingte Liebe zum Überraschungseffekt. „Ich liebe heute Musik so sehr, weil sie als Kunstrichtung immer wieder in der Lage ist, sich neu zu erfinden“, sagt Beckett. Da hat jemand den musikalischen Zynismus abgelegt. Von wegen Kulturpessimismus: Bei Warp hat Nostalgie keinen Platz, man schaut mit großer Neugierde bis heute nach vorn. Kein Zufall, dass Beckett einer der ersten Labelchefs war, der 2004 unter dem Namen „Bleep“ einen eigenen Onlineshop aufbaute. Und erst recht kein Zufall, dass Steve Beckett nichts so sehr egal ist wie falsch verstandener Purismus. So kam es, dass das Vorzeigelabel elektronischer Musik im Jahr 2004 plötzlich eine Gitarrenband aus Newcastle unter Vertrag nahm.

Eine Art Versicherung

„Man beschimpfte uns“, blickt Beckett zurück, „fragte entsetzt, was uns einfalle. Dabei hatte ich nie behauptet, dass Warp ausschließlich eine Heimat für elektronische Musik ist. Meine Idee des Labels war vielmehr die eines perfekten Plattenladens. Und wenn die beste neue Musik halt mit Gitarren eingespielt wird, warum sollte ich nicht auch diese Musik verkaufen wollen?“ Und wieder behielt Beckett recht. Kommerziell sowieso, denn Maximo Park sind für ein Indielabel in diesen schwierigen Zeiten eine Art Lebensversicherung. Aber auch qualitativ, denn Maximo Park bemühen sich redlich, dem Innovationsniveau ihrer Labelkollegen zu entsprechen.

Der Druck ist ohne Frage hoch, denn auch im 20. Jahr arbeiten für Warp eine Menge Bands und Projekte, die nicht weniger wollen, als Musik einzuspielen, die es so noch nie gab. Da sind zum Beispiel Grizzly Bear mit ihren entrückten Liedern aus einer Parallelwelt, in der die Städte statt aus Beton aus Watte gebaut sind. Oder das virtuose Krach-trifft-Komplexität-Quartett Battles, das ohne Probleme gleichermaßen für Hardcore-Conventions und Hochkultur-Jazzfestivals gebucht werden kann.

Deren Schlagzeuger John Stanier bringt das Warp-Credo auf den Punkt. „Dieses Label ist ein Glücksfall, weil man nicht nur versucht, erfolgreich zu sein. Das wäre zu einfach. Man möchte stattdessen die Musikgeschichte verändern. Und da sind wir gerne mit dabei.“ ANDRÉ BOSSE