LIEBESERKLÄRUNG: Manifeste
Sie sind Erbauungsprosa der Zornigen, wortlastige Kuschelkissen. Nur so ist Varoufakis’ neuester Wurf zu verstehen
Das berühmteste Stück dieser Gattung politischer Literatur stammt von Karl Marx und seinem Kumpel Friedrich Engels. Ihren größten politliterarischen Nummer-1-Hit hatten sie 1847/48: Das „Kommunistische Manifest“ war eigentlich die Kurzbibel der kapitalismuskritischen Linken, viel einfacher zu verstehen als das allermeiste sonst, was beide als Autoren in die Welt setzten. Das Manifest gilt seither als Schriftgattung, die zur Empörung aufruft, die wiederum zur Tat schreiten möge; ein Stück Erbauungsprosa des Zornigen.
Manifeste werden in der Regel von Menschen formuliert, die sich meist nur eine theoretische Vorstellung vom Zustand außerhalb ihrer privaten Umstände machen. Gianis Varoufakis beispielsweise und das von ihm stark mitverfasste Manifest für eine linke Reform der EU sprechen von Europa in einem Ton, der die EU als eine ökonomische Verheerung, als Trümmerlandschaft der sozialen Verwüstungen schildert. Aber so sind Manifeste grundsätzlich: Wollen sie im Aggregatzustand der Wut – notwendigerweise – wahrgenommen werden, müssen sie die Realität so ausmalen, dass vor den Augen des Lesers, der Leserin eine Topografie erwächst, die dringlich an graue Zerstörungen gemahnt. Manifeste, so gesehen, sind Tröstungsobjekte, ja wortlastige Kuschelkissen, die die Schöpfer dieser Traumprojekte als Depressive ausweisen: Sie sind gescheitert und hoffen auf Widerhall. Sie bangen, im Gehege der Aufmerksamkeitsökonomie Verlierer zu werden – deshalb das laute Rufen. Manifeste, kurz gesagt, sind dafür da, Menschen am Leben zu halten, die es mangels Verwirklichungschance ihrer Weltrettungskonzepte nur schwer in diesem aushalten.
Varoufakis’ Wut neulich bei „Maischberger“ war denn vor allem dies: dass sie sein Trostschrifttum nicht gebührend würdigte – und er aus Angst vor Verlust an Weltanschluss wie ein enthemmter Peter Pan wütend werden musste. JAF
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