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Archiv-Artikel

Nur ein Hauch von neuer Freiheit

NEUE LESART Das Londoner Label Soul Jazz vereint auf dem Doppelalbum „Country Soul Sisters“ historische Songs

Das Schöne an den vielen Compilations des Londoner Labels Soul-Jazz ist, dass sie nicht nur vergessene Schätze aus den Archiven der Plattenfirmen heben, sondern damit auch neue Kategorien schaffen. Dinge, die bislang getrennt betracht wurden, rücken in einen neuen Zusammenhang.

Niemand wäre beispielsweise in jener Zeit, die die Compilation „Country Soul Sisters“ behandelt – der Löwenanteil spielt in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren –, auf die Idee gekommen, bei den hier versammelten Künstlerinnen irgendwelche Gemeinsamkeiten zu sehen. Dolly Parton und Tammy Wynette waren Nashville-Superstars auf dem Höhepunkt ihrer Popularität, Jeannie C. Riley und Connie Smith dagegen eher aus dem zweiten Glied, Tanya Tucker eine misstrauisch beobachtete, als Rebellin verkaufte minderjährige Country-Lolita. Bobbie Gentry und Nancy Sinatra wurden kaum dem Country-, sondern eher dem Pop-Genre zugerechnet. Kitty Wells und Jean Shepard schließlich waren ältliche Has-beens, an die sich nur noch ältere Semester erinnerten.

Die Story, die Soul Jazz hier erzählen will, ist schön, aber nicht ganz korrekt. Inhaltlich hatten diese Künstlerinnen nichts miteinander zu tun und keine gemeinsame Haltung. Kitty Wells’ „It Wasn’t God Who Made Honky Tonk Angels“, der Song, der hier als Mutter aller Country-Songs mit einer selbstbewusst-weiblichen Position verkauft wird, gehörte zum beliebten Genre der Antwort-Songs (wie etwa „Wake Up Irene“ auf „Goodnight Irene“) und wurde von einem Mann komponiert und getextet: von Jay Miller, der später mit offen rassistischen Songs Karriere machte, die noch heute zu den Bestsellern von US-Nazi-CD-Shops zählen. Er reagierte damit auf den Song „The Wild Side Of Life“, der in der Version von Hank Thompson im Sommer 1952 die Country-Welt dominierte und der auf besonders platte Art auf dem Mythos des „Honky Tonk Angels“ basierte, jenes männerfressenden, familienzerstörenden Party Girls, das auf perfide, gewissenlose Art seinen Hunger nach flüchtigem Spaß zu befriedigen sucht. Mr. Millers Antwort klingt realtiv moderat: „It’s a shame that all the blame …/ Too many times married men think they’re still single /… From the start most every heart that’s ever broken / was because there always was a man to blame“.

Der schöne Zorn von Kitty Wells

In der schön zornig vorgetragenen Version von Kitty Wells reichte das immerhin zu einem Nr.-1-Hit – und zu einem Boykott des Songs durch die Radioprogramme Grand Ole Opry und der NBC. Wells’ Song brachte jedoch keine Welle ins Rollen. Es war nicht so, dass plötzlich ein neues Bewusstsein über die amerikanische Frau kam. Erst in den späten sechziger Jahren fanden sich regelmäßig weibliche, nun mitunter auch fast feministische Positionen in Country-Songs.

Allen voran bei Loretta Lynn, die hier leider nur mit einem etwas albernen Duett mit Conway Twitty vertreten ist, nicht aber mit expliziten Songs wie „Don’t Come Home A-Drinkin’ With Lovin’ On Your Mind“ oder „The Pill“, ihrer Hymne auf die neue Freiheit, die Frauen durch die Möglichkeit der Empfängnisverhütung erlangten.

Die andere schöne Story, die „Country Soul Sisters“ erzählt – eher nebenbei, womöglich unbewusst –, ist die, wie der Funk Einzug in die Country-Szene hielt. Die Zeit der Öffnung ab Ende der Sechziger brachte nämlich nicht nur textlich neue Ideen ins Genre. Schlagzeuger wie Jerry Carrigan und Larrie Londin führten den Funky Drummer in Nashville ein, Keyboards wie Clavinet und Fender Rhodes lösten das gemütlich klimpernde Honky-Tonk-Piano ab, die Gitarristen-Fraktion spielte fröhlich mit Wah-Wah-Pedalen und Fuzzboxen. Und Buddy Emmons, eine Legende an der Pedal-Steel-Guitar, traute sich gar sein Genre-definierendes Instrument durch rotierende Leslie-Lautsprecher zu jagen.

Songs wie Connie Smith’ „If It Ain’t Love“ oder Billie Joe Spears’ „Mr Walker, It’s All Over“ leben nicht zuletzt von dieser optimistisch-naiven Klang-Experimentiererei in einem ansonsten voll durchformatierten Genre. Sie zählen zu den Höhepunkten dieser Compilation, die man aber mit der Lupe suchen muss.

Was unterm Strich positiv zu sehen ist: Trotz der Fragwürdigkeit der dieser Song-Koppelung zu Grunde liegenden These erreicht sie die höchste Punktzahl in der für solche Veröffentlichungen letztlich entscheidenden Kategorie der Durchhörbarkeit. Denn es reiht sich unbekannter Hit an unbekannten Hit.

DETLEF DIEDERICHSEN

■ Various Artists, „Country Soul Sisters – Women In Country Music 1952–74“ (Soul Jazz Records/Indigo)