: Dysfunktionale Ermittler und andere Soziopathen
Krimi-Panel Bei „BritCrime“ sprachen sechs der bedeutendsten KrimiautorInnen darüber, was sie so sehr an Abgründen fasziniert
„Das Problem bei einer Veranstaltung über Kriminalliteratur ist, dass man die ganze Zeit aufpassen muss, die Katze nicht aus dem Sack zu lassen“, sagte John Mullan in seiner Abschlussrede des Literaturseminars, das der British Council am vergangenen Wochenende in Kooperation mit dem Großbritannien-Zentrum im Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität veranstaltet hat. Auch wenn in keinem der Gespräche verraten wurde, wer der Mörder ist: Um den heißen Brei wurde nicht herumgeredet.
Bei „BritCrime – A New Golden Age of Crime Writing?“ sprachen sechs der bedeutendsten zeitgenössischen britischen Krimiautorinnen und -autoren (Val McDermid, Philip Kerr, Jake Arnott, Sophie Hannah, Bethan Roberts und Kate Summerscale) über ihre Arbeitsweisen und Einflüsse und darüber, was sie an menschlichen Abgründen fasziniert.
Die Schottin Val McDermid gestand dem Londoner Literaturprofessor Mullan (der das Seminar unterhaltsam und mit nonchalantem Humor leitete), dass ihr Gehirn wie ein riesiger Komposthaufen sei, in dem einzelne Geschichten manchmal Jahre vor sich hin gärten, bis ein unvorhergesehenes Ereignis sie eine Verbindung zwischen den Geschichten schlagen lasse und sie beginne, eine Story zu komponieren. Dabei sei, so McDermid, der Plot egal: Gute Literatur stehe und falle mit den Charakteren, die nicht „gut“ sein müssten, aber interessant. Im gleichen Atemzug monierte sie die Tendenz moderner Krimis, auf dysfunktionale Ermittler zu setzen: Soziopathen ohne Freunde. In den feministischen Kreisen, die McDermid in den siebziger Jahren prägten, habe sie eher erlebt, dass Frauen sich vernetzt haben, sich gegenseitig halfen. Die Idee des gebeutelten, trinkenden Detektivs langweilt sie, weil er nicht ihrer Lebenswelt entspreche. Und weil passionierte Krimileser enorm viel lesen und wüssten, wie Storys funktionieren, sei es ihr Job als Autorin, „die Reise der Leser so interessant wie möglich zu gestalten“ und zu verhindern, dass sie auf Seite 50 wüssten, wohin es geht – und das Buch entnervt in die Tonne werfen.
Einig sind sich alle Autoren darin, dass der Plot nicht das wichtigste Element im Schaffensprozess ist. Das überrascht – gerade in einem Genre, bei dem es nicht nur um hieb- und stichfeste Beweise geht, sondern auch um wasserdichte Abläufe. Für Bethan Roberts transportiert ein guter Kriminalroman vorrangig Atmosphäre und Gefühle. Sie beginnt zu schreiben, wenn sie Ort und Zeit festgelegt hat; das charakterisiere die Geschichte und gebe ihr eine Struktur – nicht zuletzt, weil sich die Figuren in das Setting einfügen müssten. Bei ihrem aktuellen Thriller „Mother Island“, der im Sommer in deutscher Übersetzung erscheint, war sie sich über Details des Plots nicht im Klaren, bis sie das Buch zur Hälfte fertig geschrieben hatte. Wohl aber wusste sie, wo die Story emotional enden würde.
Auch Philipp Kerr, der die Leser mit seinem Ermittler Bernie Gunter ins Berlin der Nazi- und Nachkriegszeit versetzt, lässt seine Charaktere ein Eigenleben entwickeln, das sich erst beim Schreibprozess herauskristallisiert.
Die Bestsellerautorin Sophie Hannah, die mit „The Monogram Murders“ auf ausdrücklichen Wunsch der Erben Agatha Christies eine Fortsetzung der Hercule-Poirot-Geschichten veröffentlicht hat, erstellt, so erzählt sie, vorab einen präzisen Plan, fängt aber mitten in der Story zu schreiben an und verknüpft die einzelnen Teile erst zum Schluss. Darüber hinaus bewegt sie weniger die Frage, inwieweit Kriminalliteratur ein Schlaglicht auf die Gesellschaft wirft, der sie entspringt; mehr Wert legt Hannah auf die universelle Erkundung der menschlichen Psyche.
Die anwesenden Autoren haben britische Krimiliteratur in ihrer Diversität und Lebendigkeit präsentiert – die sich selbstbewusst nicht als seichte Unterhaltung versteht, sondern, wie Bethan Roberts es auf den Punkt brachte, „wesentlicher Teil von Literatur“ ist. Sylvia Prahl
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen