piwik no script img

„Demokratie stets aufs Neue erarbeiten“

Hamburg Das Thalia Theater sucht auf den Lessingtagen nach Schritten und Wegen zu einer kosmopolitischen Gesellschaft

Zwei Flüchtlinge der Gruppe Lampedusa in Hamburg liegen am Elbstrand und entspannen sich Foto: Maria Feck laif

Interview Robert Matthies

taz: Joachim Lux, die Lessingtage beschäftigen sich als dezidiert politisches Theaterfestival schon seit sieben Jahren mit der Arbeit an einer kosmopolitischen Kultur. Haben Sie geahnt, dass das Thema heute so brisant werden würde?

Joachim Lux:Dass dies das große Thema der nächsten Jahrzehnte werden wird, wissen wir spätestens seit der Verschiebung vom Ost/West- in den Nord/Südkonflikt. Trotzdem braucht man als Mensch oft noch einen persönlichen Kick. Meiner war 2005 Navid Kermanis Festrede zum 50. Jahrestag der Wiedereröffnung des Burgtheaters, in der er die europäische Flüchtlingspolitik kritisiert hat. Obwohl ich das alles irgendwie wusste, hat mich die Rede geschmissen. Außerdem interessiere ich mich für historische Verläufe. Etwas schematisch formuliert, denke ich: Das 18. Jahrhundert war das Zeitalter der Aufklärung, das 19. Jahrhundert das der Entwicklung der Nationalstaaten und das 20. Jahrhundert das von Nationalismus und Totalitarismus. Die Aufgabe des 21. Jahrhundert ist dagegen vor allem, kosmopolitische Gesellschaften zu begründen. Das ist der Kontext der derzeitigen Entwicklungen.

Warum muss ein Theater heute diese Fragen stellen?

Die Schwierigkeiten, mit der Flüchtlingsfrage in unseren Gesellschaften umzugehen, sind groß, und es ist berechtigt, da Fragen zu stellen. Man kann nicht einfach sagen: Friede, Freude, Eierkuchen. Nur umgekehrt: Sich dieser Herausforderung zu stellen und damit umzugehen ist eine vergleichsweise kleine Herausforderung im Verhältnis dazu, dass wir alle sonst, durch unsere Steuergelder, mitschuldig sind am Tod von Zigtausenden von Menschen, die im Mittelmeer verbluten oder ertrinken. Es ist die historische Schuld unserer Generation, wenn wir nicht Wege finden, damit umzugehen.

Im Dezember hat der lettische Regisseur Alvis Hermanis eine Inszenierung am Thalia Theater aus Protest gegen dessen humanitäres Engagement für Flüchtlinge abgesagt. Hat Sie das überrascht?

Ich kann mich im Rahmen meiner Berufstätigkeit nicht daran erinnern, dass ein Künstler je aus politischen Gründen ein Theater boykottiert hat. Der Vorgang zeigt, wie massiv die politische Polarisierung in Europa derzeit ist. Der Vorgang gehört in einen Zusammenhang mit den politischen Positionen der neuen polnischen Regierung und von Orbán in Ungarn. Das finde ich sehr traurig und schade.

Hermanis hat dem Thalia vorgeworfen, dass es sich als Refugee Welcome Center verstehe.

Theater sind natürlich keine Refugee Welcome Center, sondern kulturelle Organisationen, die dafür da sind, künstlerische Arbeit zu ermöglichen. Zugleich sind Kunst und Kultur aber ohne soziale Verantwortung nicht denkbar. Sie entstehen in einem sozialen Raum, und Theater lebt vom sozialen Raum – wenn kein Publikum da ist, gibt es kein Theater. Man kann nicht hehre Kunst von der sozialen Wirklichkeit trennen. Ich lasse mir das humanitäre Engagement für Flüchtlinge deshalb nicht verbieten. Ich engagiere mich gesellschaftspolitisch, wenn ich es für richtig halte. Wenn ich mich aber umgekehrt für Inszenierungen entscheide, die sich nicht mit dieser Frage beschäftigen, dann mindert das – auch das sei einmal klar gesagt – nicht die Legitimität von Theater. Die Legitimität von Theater besteht nicht darin, zu allen gesellschaftspolitisch gerade relevanten Fragen permanent noch eigene Ergüsse zu fabrizieren. Das ist nicht unsere Aufgabe, sondern wir bestehen auf unserer Autonomie. Den Kurzschluss, Theater sei legitimiert, wenn es politisch und sozial ist, lehne ich ab.

Lessingtage 2016

Empfehlungen für die Lessingtage 2016 (23. Januar bis 7. Februar): Nur durch die Kamera bekommt der Zuschauer Einblick in den bis ins kleinste Detail ausformulierten Bühnenkosmos, den das niederländische Kollektiv FC Bergman in „300el x 50el x 30el“ durchspielt: Was passiert, wenn wir unter uns bleiben wollen und uns abschotten? Ein beklemmendes Bildertheater. In „Antigone of Shatila“ des syrischen Autors Mohammad al-Attar blicken 17 in den Libanon geflüchtete syrische Frauen ohne Theatererfahrung auf Sophokles’ „Antigone“ aus einer sehr persönlichen, kultur- und geschlechtsspezifischen Perspektive. Der Bürgergipfel „Das Neue Wir“ findet am 24. Januar statt.

Thema der Lessingtage 2016 ist das „neue Wir“. Das belgische Theaterkollektiv FC Bergman wird auf der Bühne erzählen, wie es ist, in einer abgeschotteten, homogenen Gesellschaft zu leben. Ist die Chance des Theaters für gesellschaftspolitische Diskussionen, dass es verschiedene Realitäten durchspielen kann?

Der Regisseur Benno Besson hat einmal sinngemäß gesagt: Das Theater hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Es hat sein eigenes Zeichensystem. Wenn es diese Grundregel für sich akzeptiert, kann es sehr viel über die Wirklichkeit erzählen. Das ist ein dialektischer Punkt: Die Nachahmung von Wirklichkeit auf der Bühne ist schwierig, die übersetzte Darstellung ist die eigentliche Aufgabe.

Im Theater ist das Einüben von Rollen Alltag. Kann man dort lernen, auch in gesellschaftspolitischen Fragen neue Rolle einzuüben?

Das Theater ist, wenn wir Glück haben, ein Ort des Spielens. Spiel ist Freiheit, und in der Freiheit komme ich zu Schlüssen, die in der Wirklichkeit erst mal gar nicht möglich sind. Dadurch entsteht im besten Fall ein Utopievorschuss, der wiederum im besten Fall Wirklichkeit wird, weil er aus der Nichtwirklichkeit des Spiels und der ästhetischen Umsetzung entsteht. Es ist ein komplexer Vorgang.

Nicht nur auf der Bühne wird das zum Thema gemacht. Statt einer Eröffnungsrede gibt es diesmal einen „Bürgergipfel“, auf dem Bürger und Neubürger gemeinsam diskutieren sollen.

Es geht um neue Formen der Begegnung. Auch zu Nicolas Stemanns „Die Schutzbefohlenen“ gehörten von Beginn an Tischgespräche zwischen Flüchtlingen und Zuschauern, die nach wie vor im Anschluss an die Aufführung stattfinden. In der Spielstätte in der Gaußstraße haben wir eine „Embassy of Hope“ eingerichtet, die wir mittwochs bis samstags für Begegnungen mit Flüchtlingen öffnen. Da geht es oft um ganz einfache Sachen: um multilingual verständliche Lexika, darum, sich überhaupt mal zu unterhalten, Arbeitsperspektiven zu eröffnen, ein soziales Netzwerk zu spinnen und die Menschen aus diesen Gettos, in denen sie derzeit meistens leben, herauszulösen. Das ist, wenn man so will, ein Aspekt von Sozialarbeit, in diesem Fall verbunden mit spielerischen Angeboten. Der Bürgergipfel ist etwas Ähnliches auf einer größeren Ebene.

Foto: Armin Smailovic
Joachim Lux

58, Regisseur, Dramaturg und seit 2009 Intendant des Hamburger Thalia Theaters, erhielt 2011 den Max-Brauer-Preis für seine Verdienste um das kulturelle Leben Hamburgs, insbesondere die Organisa­tion der Lessing­tage.

Was erhoffen Sie sich von solchen Begegnungen?

Ich erhoffe mir davon auch konkreten Austausch. Wir haben uns vier zentrale Themen gesetzt: Arbeit, Wohnen, Glauben und Bildung. Aber wir wollen und können die Arbeit des Staates natürlich nicht ersetzen. Wir wollen versuchen, zwischen den Bürgern, den Altbürgern sozusagen und den neuen Bürgern, Verständnis zu schaffen. Demokratie muss stets aufs Neue erarbeitet werden. Es geht um den Respekt vor dem anderen in seiner Andersartigkeit. Nichts anderes meint Toleranz. Aber das ist leicht gesagt und schwer getan. Ob der Bürgergipfel, den wir uns erhoffen, überhaupt gelingt, wissen wir nicht. Vielleicht kommt ja kein einziger Flüchtling, wer weiß.

Warum ist das Theater heute in der Verantwortung, solche Räume zu schaffen?

Ich glaube, dass die urbanen Realitäten nicht mehr viele Räume zulassen, an denen sich überhaupt Gemeinschaften versammeln. Es sind eigentlich Fußballplätze, Kirchen – und Theater. Da entsteht eine Leerstelle, wo das Theater als – altmodisch gesagt – Agora einer Stadtgesellschaft dienen kann und dadurch vielleicht ab und zu Dinge ermöglicht, die es sonst nicht gäbe.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen