Uta Schleiermacher denkt darüber nach, warum sie keine Anzeige erstattet hat: In den frühen Morgenstunden an der Warschauer
Wochenende, in den frühen Morgenstunden an der Warschauer Brücke. Ich gehe Richtung Bahn an einer Gruppe von Männern vorbei, einer von ihnen torkelt rückwärts in meine Richtung. Ich versuche, ihn auf Abstand zu halten. Er dreht sich um, gleichzeitig steckt er seine Hand in meine Jackentasche. Mit der anderen Hand macht er ruckartige Bewegungen von oben nach unten, Zeigefinger und Mittelfinger zusammen ausgestreckt. Er sagt: „Bist du lange nicht mehr gefingert worden. Ich finger dich.“
In meiner Jackentasche ist mein Telefon. Ich packe sein Handgelenk, sage ihm, dass er das Telefon loslassen soll. Er beschimpft mich, fuchtelt mit dem anderen Arm herum. Meine Hand umklammert weiter seinen Arm, ich habe Angst, dass der Mann mich schlägt. Meine Begleitung mischt sich ein. Dann lässt er mein Telefon los. Von irgendwo schräg hinten kommt eine Polizistin, drängt sich dazwischen und führt ihn weg. Ich drehe mich um, gehe weiter zur Bahn.
Warum ich den Vorfall nicht angezeigt habe? Es war unerfreulich, ich war auf dem Heimweg. Und kurz vorher hatte man mir in derselben Nacht meine Tasche gestohlen. Mir erschien die Frage, ob ich alle Karten gesperrt habe und wie ich ohne Geld nach Hause komme, wichtiger als dieser Vorfall. Den Taschendiebstahl habe ich angezeigt. Den versuchten Handydiebstahl mit sexueller Belästigung nicht. Das erwähne ich erst zwei Wochen später, in Gesprächen über die Kölner Silvesternacht.
„Die wichtigen Dinge erzählst du gar nicht“, sagt ein Freund. Auch bei ihm hatte ich mich nur über den Ärger mit der Tasche beklagt. Warum habe ich den verbalen sexuellen Übergriff so schnell fallen gelassen? Weil ich gedacht habe, dass es eh nichts bringt.
Und weil ich schon Schlimmeres erlebt habe, andere, auch unangenehmere Formen sexueller Gewalt. Ich streiche solche Erlebnisse, die ganz beiläufig in allenmöglichen Situationen passieren können, möglichst schnell aus meinen Gedanken,ich möchte mich deswegen nicht einschränken.
Als immer mehr Frauen nach der Silvesternacht in Köln sexuelle Gewalt anzeigen, denke ich doch wieder über den Abend im Dezember nach. Wenn mir dasselbe Silvester in Köln passiert wäre, hätte ich es inzwischen auch angezeigt. Mir hätte es Mut gemacht zu wissen, dass ich nicht allein bin. Wer weiß, wie vielen es geht wie mir?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen