Berliner Szenen:
Nur in deinem Kopf
Eigentlich hatte ich nach den grauenvollsten Ferien des Jahres (kein Hort!) endlich arbeiten wollen. Denken, schreiben, am liebsten in einem Café. Doch nach einem Arzttermin und einer Irrfahrt durch die westliche Stadt endlich am Ziel, dem Dujardin im Wedding, läuft mir R. in die Arme. Es ist schon fast Mittag; er will essen und kommt mit. J., der nebenan wohnt, ruft an. Er will Schreibpause machen (Neid!). Dann kommt noch M. dazu und es ist perfekt.
„Ich war gestern bei Roncalli“, werfe ich in die Runde. „Hab gemerkt, dass ich alt geworden bin.“
„Konntest du nicht mehr staunen?“
Nein, das war es nicht, staunen konnte ich. Über die mageren und muskulösen Rücken der Artistinnen. Über die winzigen, glitzernden Stoffstreifen, die ihren Schritt gerade so bedeckten. (Eine Show für die ganze Familie!) Über die völkerschauartigen Akrobatik-Performances, die Frau Riefenstahl eine wahre Freude gewesen wären. Staunen konnte ich aber wirklich.
Alt bin ich, weil ich das alles nie mehr können werde. Diese ganze geile Schwerelosigkeits-Muskel-Körperspannungs-Kraft. Ich saß da und fühlte mich wie eine Wuchtel (österr. Mehlspeise, Anm. d. Autorin) in lauwarmer Vanillesause.
Gottlob gibt es die Clowns. Die mit der schlechten Haltung, wie gerade vom Schreibtisch aufgestanden. Der eine sieht aus wie Slavoj Žižek im weißen Strampler. Er verhält sich auch ungefähr so, nur dass seine Stimme ganz hell ist und er nur „Mihihi“ sagt. Der andere sieht original aus wie Bob Dylan. Die Locken, die Nase, das leicht Griesgrämige. Gelbe Hosen, runder Hut. Er spielt melancholisch mit Plastiktüten.
Ob das gewollt war? Žižek und Dylan als intellektuelle Clowns im Alt-68er-Circus Roncalli?
R., J. und M. lachen mich ungläubig bis liebevoll-mitleidig aus. „Mann“, sagen sie, „das ist alles nur in deinem Kopf.“
Kirsten Reinhardt
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