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Im Anwohnerpark

MANJA PRÄKELS

Teil 17: Babuschka vorm Zombiekasten

Eine Mütze aus dickem Nebel hatte sich am ersten Tag des neuen Jahres über Berlin gelegt, den Himmel und die obersten Stockwerke der kleinen Straße nördlich des Alexanderplatzes verschluckt. Unscharfes Wetter. Katerstimmung. Nichts Neues, nur ein Zeiger, der sich unentwegt weiter bewegt. Vor der Kaufhalle lagen leergetrunkene Sektflaschen, die als Startrampen für die Raketen gedient hatten. Die Böllerei war dezenter ausgefallen als in den Jahren zuvor. Die Rücksichtnahme galt den neuen Nachbarn, die in der Turnhalle untergebracht waren. Kriegsflüchtlinge. Schutzbedürftige. Menschen aus Weltgegenden ohne Geld, ohne Konfetti, ohne Silvesterpartys. Vereinzelt schälten sich Figuren aus dem Nebel, streunten Spaziergänger umher. Ein entflohener Wellensittich hüpfte tschilpend von Baum zu Baum. Es schien, als habe er gute Laune. Sonst störte nichts die Ruhe.

Hildegard und Anne trafen sich auf dem Trottoir vor ihren Läden. Sie stellten die Fahrräder ab und blickten einander fragend an:

„Habense dich ooch verhört?“

„Starsky und Hutch?“

„Ja, jenau. Kommste später auf’n Bier rüber?“

„Auf einen Weißwein? Klar.“

In den Tagen zwischen den Jahren waren zwei Kriminalbeamte aufgetaucht, sportliche Typen mit gut sitzenden Frisuren und großen Uhren an den Handgelenken. Sie hatten nicht nur die Besitzerinnen des Bioladens und der benachbarten blaulichtgenannten Kneipe aufgesucht. Tür an Tür klopfend, waren sie durch die Treppenhäuser der Nachbarschaft geeilt, kritzelten Notizblöcke voll, musterten misstrauisch ihre Gesprächspartner. Die Umstände, die kurz vor Weihnachten zu der Gasexplosion im Hinterhof geführt hatten, lagen noch immer im Dunklen, doch verdichteten sich die Hinweise: Die Leitung war manipuliert worden. Inzwischen ging man davon aus, dass es sich um einen Einzeltäter handelte, der dabei selbst zu Schaden gekommen war. Darauf deuteten die Spuren hin.

„Verficktnochmal.“

Ein Fluchen übersprang die Friedhofsmauer am Ende der kleinen Straße. Der krumme Komponist legte das Telefon neben sich auf die Bank. Wie nutzlos es ohne Netzempfang war. Am liebsten hätte er es weggeschmissen. Stattdessen beobachtete er die alte Nachbarin beim Füttern der Meisenbande. Seine Kindheit steckte voller komischer Käuze, Katzen- und Vogelmenschen wie ihr. Er erinnerte sich an den Taubenmann, der in der Nähe des Hafens von Ventspils lebte. Die Viecher setzten sich dem Alten auf Schultern Kopf und Arme, als zöge er sie magisch an, als könne er sie wärmen und gegen den eisigen Seewind beschützen. Und dann der Schreck, wenn sich die Täubchen plötzlich vom Leib des Mannes erhoben und in alle Himmelsrichtungen davonflogen ... Ihm war wehmütig. Er vermisste seine Freunde, die Geliebten in St. Petersburg und Moskau, Helsinki und Klaipeda. Wenigstens durfte man in Berlin schwul sein. Aber darüber hinaus? Einsam.

Lale saß rittlings auf Django, dem besten Gitarristen der Welt. Seit Weihnachten feierten die beiden ausgelassen, schmissen sich Pillen ein, zogen Lines, tranken Bier und zwischendurch fielen sie übereinander her. Sie waren wirklich gut darin und wussten es auch. Das Zusammenspiel aus Djangos quietschendem Bett und den schmatzenden Geräuschen, die zwischen ihren nackten Bäuchen entstanden, brachte beide zum Lachen.

„Los, lass uns nachlegen!“

„Wie denn? Is alle.“

„Waaaaas?“

Mit lautem Poltern landete Lale auf dem kalten Dielenfußboden.

„Spinnst du?“

Schon am Weihnachtsabend hatte es Streit gegeben. Seit Lale ehrenamtlich in der Turnhalle aushalf, fehlte der Lohn, den sie sonst aus dem blaulicht mitgebracht hatte. Django regte das auf. Klar, er war sowieso pleite.

Charlotte Heinrich tätschelte stolz Bienchens gelockten Kopf. Der alte Pudel hatte zugebissen. Instinktiv und gnadenlos, auch gegen das eigene, lädierte Gebiss. Waren doch tatsächlich diese Kerle bei ihr reingeschneit, als gehörte ihnen die Welt. So ein aalglatter Anzugträger und seine rechte Hand. Die rechte Hand! Harharhar. Oma Heinrich dachte an das schmerzverzerrte Gesicht des Kofferträgers und lachte heiser vor sich hin. Dessen Pfote hatte ohnehin schon in einem Verband gesteckt, was Bienchen derart in Rage versetzte, dass sie den armen Trottel sofort anfiel. Zack! Harharhar. Diese Immobilienheinis hatten wohl gedacht, sie könnten sie übers Ohr hauen. Für solche Leute war Altsein gleichbedeutend mit Beklopptsein. Was die sich einbildeten! Oma Heinrich schüttelte die letzten Brotkrümel ins platt getretene Gras, gab Bienchen einen Klaps und machte sich auf den Heimweg. Ihr im Rücken stürzten sich die Meisen auf das Mahl.

Krumm wie ein Fragezeichen blickte der Komponist auf das Display seines Handys. Wie lange würde er dieses Hin- und Her noch durchhalten können, die vielen Zuhause, die ermüdenden Empfänge, das Kofferpacken? Er schüttelte den Kopf. Letztlich folgte er immer der Kohle. Nun wackelte die Nachbarin mit dem Stinkepudel davon. Sie erinnerte ihn an sein Großmütterchen. Bozhe moj! Wenn er die nicht bald in ihrem windschiefen Haus auf der Krim besuchte, würde sie noch mutterseelenallein vorm Zombiekasten versterben! Ihr Fernsehgerät schwieg nie und wäre es kaputt, würde sie sich wohl in die Jauchegrube stürzen. Diese Abhängigkeit war beängstigend ... Das Telefon piepte. Endlich Empfang! Der Komponist war wieder mit der Welt verbunden.

Erschöpft ließ sich Anne auf den Barhocker sinken. Sie hatte ihren Wein sicherheitshalber selbst mitgebracht. Hildegard drückte beide Augen zu. Ausnahmsweise.

„Was haben sie gesagt?“

Manja Präkels,Jahrgang 1974, schreibt, singt und tourt mit ihrer Band Der Singende Tresen. Soeben erschien beim Verbrecher Verlag die von ihr mit Markus Liske herausgegebene Textsammlung „Vorsicht Volk!“. Seit 2009 betreiben die beiden die Gedankenmanufaktur WORT & TON. Ihr Romandebüt „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ erscheint 2016.

Illustriert wird die „Im Anwohnerpark“-Serie von Maria MacDonald, cargocollective.com.

„Na nüscht.“

„Aber die denken doch, dass es mutwillig war und kein Unfall ...“

„Klar. Ick hab ooch von dem Typen erzählt, der unsern Müll durchsucht hat.“

„Ich sag dir, das hängt alles mit dem Hausverkauf zusammen ...“

„Na ja ...“

„Was? Bezweifelst du das etwa noch?“

„Vielleicht hat’s ooch mit unserm Flugpulver zu tun.“

Anne fiel die Kippe aus dem Gesicht.

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