: Topinambur aus der Tüte
SNACKS II Jahresend- ist Knabberzeit. Wem knuspriger Kohl allzu vernünftig ist, die Kartoffel aber auch wieder zu banal: Gemüsechips finden sich in immer mehr Läden. Ein (unvollständiger) Blick ins Regal
In den USA erzählen Fernsehkomödianten bereits diesen Witz: Die Liberalen – dort ja in linkerem Sinne zu verstehen als etwa hiesige Freidemokraten – lebten in Angst vor einer weltweiten Kohlblatt-Knappheit. „Kale Chips“ respektive „Crisps“ scheinen da also im Begriff zu sein, den hybridangetriebenen PKW als Ausweis nachhaltigen Lebenswandels abzulösen. Bis es bei deutschen Grünen so weit ist, dauert es wohl noch ein paar „Höhle des Löwen“-Staffeln (siehe Artikel oben). Aber es gibt einen älteren, weniger rigorosen Vorläufer-Trend, gespeist sowohl aus den Konjunkturen des Gesundheitsbewusstseins als auch dem Revival „alter“ Gemüsesorten, wie es seit einigen Jahren Biokistenanbieter und Kochbuchverleger erfreut: Chips aus Mohrrübe oder Süßkartoffel, Roter Bete, Pastinake oder Topinambur.
Die finden sich in immer mehr deutschen Supermarktregalen, von Anfang an auch in der Bio-Variante: Zumindest das entsprechende EU-Siegel tragen sogar die Hausmarken-Chips bei den Discountern Rossmann und Penny. Auch der niederländische Hersteller de Rit, der sein Deutschlandgeschäft von Bremen aus betreibt, setzt auf Bio: Seine Chips, neben der Meersalz-Variante, an der quasi kein Hersteller vorbeikommt, auch in „Rosmarin“ erhältlich, sind aber, grob gerechnet, doppelt so teuer und werden über den Bio-Fachhandel vertrieben. Diese Chips sind mit Rosmarin dann aber nur unter anderem gewürzt – dafür auch mit Knoblauchpulver und Traubenzucker.
Damit torpedieren ausgerechnet die Lohas-tauglichsten unter den von der taz getesteten Gemüsechips die wohl am meisten verbreitete Annahme über deren segensreiche Eigenschaften: Dass sie ehrlicher seien als der Corporate-Kartoffelsnack, frei von Geschmacksverstärkern und all den Gimmicks, die den Snackenden immer wieder zum Griff in die Tüte bewegen sollen. In der Tat stellen die meisten Hersteller – und damit die allermeisten Gemüsechips im deutschen Angebot – auf eine gewisse Bodenständigkeit ab: Nahezu jede Tüte ruft dem Käufer zu, dass da kein Schnickschnack drin sei.
Süßkartoffel, Rote Bete und Möhre, ferner die Pastinake oder – beim Hamelner Hersteller XOX – Sellerie: Gemüse in wechselnden Gewichtsanteilen macht mal gut die Hälfte dieser Produkte aus, mal annähernd drei Viertel. Dazu kommt immer reichlich Fett, bei den ambitionierteren auch schon mal in Form von „High Oleic Sonnenblumenöl (von Natur aus reich an einfach ungesättigten Fettsäuren)“. Ein Anteil von einem Drittel ist üblich, in etwa also wie beim Kartoffelerzeugnis. Die zumindest seitens der Anbieter populärste Geschmacksvariante ist das erwähnte Meersalz, da setzt Hamburger Senf- und Essiggurkenriese Kühne schon beinahe Exotikmaßstäbe, wenn er daneben auch die Variationen Paprika und Kräuter anbietet.
Auch wenn sich eine Boulevardzeitung in England – wo diese Chips schon lange und in nahezu jeder Preis- und Qualitätsklasse auf dem Markt sind – schon darüber ausließ, ob sich mit einer kleinen Tüte Chips nicht eine der empfohlenen fünf Obst- oder Gemüseportionen täglich erledigen lasse: Ein wirklich vernünftiges Nahrungsmittel ist auch die biologisch gezogene, mit hochwertigem Öl frittierte und allenfalls schwach gesalzene Topinambur-Scheibe nicht. Aber das hat vermutlich auch niemand wirklich geglaubt. Dass, andererseits, das Marketing umso mehr aufs vermeintlich Vernünftige setzen muss, je weniger die frittierte Wurzel in puncto Geschmack mithält mit dem getunten Industrie-Kartoffelchip: Das behaupten nur die bösen unter den Zungen. ALDI
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen