: Lobby für Arme
INDIEN Die meisten Frauen sind im informellen Sektor tätig. Sewa setzt sich erfolgreich für ihre Rechte ein
■ 1972 in Ahmedabad im indischen Bundesstaat Gujarat gegründet, besteht die Self Employed Women Association (Sewa) inzwischen aus fast einer Million Mitgliedern sowie einem Netzwerk mit mehreren tausend Basisgruppen und fast hundertKooperativen in neun indischen Bundesstaaten. Sewa ist eine neue Form von Gewerkschaft, in der sich die bisher rechtlosen Müllsammlerinnen, Marktfrauen oder Heimarbeiterinnen aus dem informellen Sektor organisiert haben. Die Sewa-Bank vergibt Kleinkredite und -versicherungen, die Sewa-Stiftung für Wohnraum unterstützt Frauen in Slums, die Sewa-Akademie bildet sie weiter.
AUS DELHI SASCHA ZASTIRAL
Ein Labyrinth aus Gassen führt in eine Slumsiedlung neben dem Okhla-Industriegebiet in Indiens Hauptstadt Neu-Delhi. Im Inneren des Armenviertels spielen Kinder. Kleine Geschäfte verkaufen Zigaretten, Waschpulver und Telefongespräche. Die Menschen, die hier leben, haben sich im Lauf der Jahre kleine Backsteinhäuser gebaut. Manche sind zwei Stockwerke hoch. Wie die meisten Slums in Indien ist auch dieses Armenviertel ein riesiges Kleinindustriegebiet.
Hinter offenen Türen sitzen Frauen auf dem Boden an Nähmaschinen und setzen Stoffbahnen zusammen. Andere stecken kleine Kunststoff- und Metallteile zu bunt besetzten Armbändern. Die Aufträge dazu haben die meisten von ihnen im benachbarten Industriegebiet bekommen. Die Firmen, die dort ihren Sitz haben, exportieren die Produkte aus dem Slum überallhin in die Welt. Etliche Frauen aus dem Slum arbeiten tagsüber in den nahe gelegenen Vierteln von Indiens Mittelschicht. Sie verdienen ihr Geld als Haushaltshilfen und putzen, kochen und waschen dort Wäsche.
Die selbstständigen Frauen organisieren sich
Das ist der Regelfall in Indiens Arbeitswelt: 93 Prozent aller Arbeiter verdienen ihr Geld im informellen Sektor. Soll heißen: Sie schuften ohne gesicherte Arbeitsverhältnisse und ohne Krankenversicherung. Sie führen ein Leben ohne Sicherheit. Der Anteil der Frauen, die auf diese Weise arbeiten, liegt sogar noch höher.
Die Organisation Sewa möchte das ändern. Der Name steht für „Verband selbstständig beschäftigter Frauen“. „Wir sind heute in neun Bundesstaaten aktiv“, sagt Renana Jhabvala. Sie ist die Vorsitzende des Sewa-Dachverbands Sewa Bharat in Neu-Delhi. „Wir sind an keine politische Partei gebunden, sehen uns aber als politische Bewegung“, erklärt Jhabvala weiter. Das Ziel von Sewa: die selbstständig tätigen Frauen zu organisieren, ihnen Zugang zu günstigen Krediten zu verschaffen und ihnen eine Stimme gegenüber ihren Arbeit- und Auftraggebern geben.
„Die Stadtverwaltung in Delhi ist gegenüber den Armen rücksichtsloser als in andere Städten und Bundesstaaten“, erklärt Jhabvala. Denn die Entscheidungsträger gingen regelmäßig gegen Kleinbetriebe in Wohnvierteln vor. Auch die vielen inoffiziellen Märkte in der Stadt – etliche Sewa-Mitglieder sind selbstständige Händlerinnen – würden immer wieder geschlossen. „Vor allem müssen die Menschen jetzt Angst haben, dass ihre Slums abgerissen werden.“
Denn im kommenden Jahr hält Delhi die Commonwealth Games ab, den größten Sportevent unter den Commonwealth-Staaten. Bis dahin soll Delhi zu einer vorzeigbaren Weltstadt ausgebaut werden. Etliche Slums sollen verschwinden oder an den Stadtrand umgesiedelt werden. Doch für viele selbstständige Arbeiterinnen wäre dies fatal. Denn sie könnten dann kaum noch ihre Arbeitsplätze erreichen. Viele von ihnen, die in Haushalten arbeiten, müssten in diesem Fall Tag für Tag stundenlang zu ihren Arbeitsplätzen fahren.
Darüber hinaus sorge Sewa dafür, dass sich die Frauen zu Mikrofinanzgruppen zusammenschlössen, erzählt Renana Jhabvala. „Hinzu kommen Mikroversicherungen und gemeinsame Pensionskassen.“ Die Frauen könnten so ihr Geld viel besser verwalten und müssten sich nicht mehr von Tag zu Tag aufs Neue durchschlagen.
Die Polizei kassierte Schmiergelder und zog ab
Usha Bhen, 32 Jahre alt, vertritt Sewa in ihrem Armenviertel. Sie trägt ein lilafarbenes Sari-Wickelkleid und hat sich in eine braune Decke gewickelt. „Bhen“ bedeutet „Schwester“. Viele arme Frauen in Indien geben sich diesen Namen. Denn der tatsächliche Nachname ist in Nordindien zumeist der Name der Kaste. Vor allem Dalits, Mitglieder der einst „unberührbaren“ Kasten, vermeiden es auf diese Weise, ihre soziale Herkunft preiszugeben.
„Vor vier Jahren bin ich ein Mitglied von Sewa geworden“, sagt Usha Bhen. Damals habe sie als Händlerin gearbeitet und sich gegenüber den Behörden und der Polizei machtlos gefühlt. Immer wieder seien Polizisten auf dem kleinen Markt, wo sie gebrauchte Kleidung verkauft hat, aufgetaucht und hätten gedroht, ihn zu schließen. Dann hätten sie Schmiergelder kassiert und seien weitergezogen.
„Heute kann ich mich gegenüber der Polizei behaupten“, sagt Usha Bhen entschlossen. Denn viele der Frauen in ihrem Stadtteil seien nun über Sewa organisiert. Die Organisation hat einigen Einfluss auf die Stadtverwaltung. Nach einigen Monaten habe die Stadt den Verkäuferinnen einen Standort für einen legalen Markt zur Verfügung gestellt, den Sewa mit der Verwaltung ausgehandelt hatte. Usha Bhen wurde zur Sewa Sathi, zur Ansprechpartnerin der Organisation in ihrem Viertel.
Die hohe Zahl von Arbeiterinnen, die weder fest angestellt noch durch Arbeitsschutzrechte gesichert sind, spiegelt Indiens extrem hierarchische Sozialordnung und die wachsenden Kontraste des Landes wider. Denn Kontakte zur regulären Wirtschaft oder ins Ausland haben meist nur Geschäftsleute, die aus der urbanen Mittelschicht des Landes stammen. Dagegen haben die 38 Prozent der Menschen in Indien, die als sehr arm gelten, bislang kaum eine Lobby, die für ihre Interessen eintritt.
„Auch das versuchen wir zu ändern“, erklärt Renana Jhabvala. Die Organisation fasste in Delhi viele ihrer Mitglieder zu Kooperativen zusammen, trat gegenüber Auftraggebern aus der Wirtschaft als Vermittler auf und handelte Aufträge zu weit besseren Preisen aus. Viele Sewa-Arbeiterinnen erhalten ihre Aufträge nun direkt von Firmen aus dem In- und Ausland.
Die Mittelsmänner, die bislang mindestens die Hälfte des Gewinns gemacht haben, sind damit vielerorts aus dem Rennen. „Viele der Frauen verdienen nun doppelt so viel wie davor“, sagt Jhabvala. Manche von ihnen hätten nun ein regelmäßiges Einkommen von mehr als 100 Euro im Monat – doppelt so viel wie der Landesdurchschnitt.
Die Gründerin der Organisation ist die bekannte Anwältin und Menschenrechtsaktivistin Ela Bhatt. Die heute 76-Jährige hat Sewa 1972 ins Leben gerufen. Damals leitete sie den Frauenverband einer großen Gewerkschaft von Textilarbeitern. Seit 2007 gehört sie dem Rat der Ältesten an, einem Beratergremium, in dem auch Nelson Mandela, Kofi Annan, Muhammad Yunus, der Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu und der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter aktiv sind.
Ihre Arbeit sei stark von den Ideen Gandhis beeinflusst, sagt Ela Bhatt, die aus demselben Bundesstaat stammt wie Indiens großer Unabhängigkeitskämpfer – aus Gujarat. „Gandhi hat aufgezeigt, dass Armut inakzeptabel ist“, sagt Bhatt. „Daran musste ich denken, als ich die vielen armen, selbstständigen Textilarbeiter gesehen habe, während ich für die Textilgewerkschaft gearbeitet habe.“ Nach und nach habe sie dann beschlossen, ihre Arbeit dort zu verlassen und sich für die frei beschäftigten Arbeiterinnen einzusetzen, die damals kein Gesetz geschützt hat. „Doch heute beobachten wir, wie die Arbeit im informellen Sektor weiter zunimmt“, sagt Bhatt. Denn die Schwellen- und Entwicklungsländer müssten nun miteinander und mit den Industrienationen konkurrieren. In Indien bedeutet das: den Abbau von immer mehr festen Stellen und immer mehr Verlagerung von Arbeit in Hinterhofbetriebe. „Die weltweite Wirtschaftskrise hat diese Entwicklung sogar noch beschleunigt“, fügt Ela Bhatt hinzu.
„Armut ist politisch. Denn wenn Armut herrscht, heißt das, dass ein Konsens innerhalb einer Gesellschaft besteht, der Armut zulässt.“ Die indische Regierung müsse nun Mindestlöhne einführen und diese überall, auch im riesigen informellen Sektor des Landes durchsetzen, sagt Bhatt. Nur so könne Armut effektiv bekämpft werden.
Usha Bhai, die frühere Händlerin, spürt heute einen großen Unterschied zu dem Leben vor ihrer Sewa-Mitgliedschaft. „Früher habe ich nur gearbeitet oder war zu Hause. Heute organisiere ich Treffen mit anderen Frauen, trage unsere Anliegen bei der Stadtverwaltung vor und habe das Gefühl, dass ich unsere Lage wirklich verbessern kann.“
Auch die Männer der Sewa-Frauen unterstützen die Arbeit der Organisation. „Zuerst war mein Mann skeptisch, weil ich so viel unterwegs war und von Treffen zu Treffen gegangen bin“, berichtet Usha Bhai. Doch heute sehe er, dass ihre Arbeit Früchte trage, und stehe voll hinter ihr.
„Wir haben erkannt, dass wir unsere Lage verbessern können, wenn wir nur genug Frauen mobilisieren. Das tun wir, und wir kämpfen gemeinsam für eine bessere Zukunft unserer Kinder.“