Der Mut zur Liebe

OPERNPREMIERE Dieter Dorn hat für die Staatsoper das Theaterstück „Die Kameliendame“ vonAlexandre Dumas dem Jüngeren inszeniert. Daniel Barenboim dirigiert dazu „La Traviata“ von Giuseppe Verdi

Der Sohn und der Vater imStreit: Abdellah Lasri (Alfredo Germont) und Simone Piazzola (Gergio Germont) Foto: Bernd Uhlig

von Niklaus Hablützel

Es geschieht nichts, der Raum ist schwarz. Mitten auf der erhöhten Drehbühne, die sich nicht rührt, steht ein zerbrochener Spiegel. Davor liegt Sonya Yoncheva, 34 Jahre alt, mit Preisen überhäufte Sängerin aus Bulgarien, auf einem schäbigen Bett. Aus einem unförmigen Sack an der Decke rieselt Sand. Sonya Yoncheva erhebt sich, wäscht die Hände in dem dünnen Strahl aus Staub, der im Scheinwer­ferlich blass leuchtet. Sie blickt in den Spiegel und erkennt darin schemenhaft einen Totenkopf.

Es ist kein Totenkopf. Das Spiegelbild regt sich, was wie Knochen aussah, sind acht menschliche Körper in weißen, hautengen Trikots, die nichts verhüllen. Es sind lebende Leichen. Sie umstellen die Matratzengruft der jungen Frau in einem Bild, das ihre ganze Geschichte erzählt. Es ist die Geschichte eines Todes.

Dieser düstere Einstieg erklärt sofort, warum ausgerechnet „La Traviata“, diese unendlich oft gespielte, überaus populäre Oper bei ihrer Uraufführung 1853 in Venedig glatt durchfiel. Es lag sicher nicht an der erotischen Freizügigkeit der Figuren. Davon ist gar nichts zum sehen. Schockierend ist, dass dieses Stück vom Sterben einer Frau handelt, die den Mut zu einer tief empfundenen, echten und großen Liebe hat.

Krankheit und Liebesglück

Diesen Mut hat auch Dieter Dorn. So etwas möchte man in der Oper lieber nicht sehen. Helden- und Liebestode gerne, aber nicht Krankheit und Liebesglück in einem. Dorn zwingt dazu, genau das zur Kenntnis zu nehmen, und mit Sonya Yoncheva zusammen gelingt ihm ein unglaublich genaues und sensibles Seelentheater, das tief berührt. Was dieses französische Partygirl von 1850 fühlt und erlebt, ist wahr. Nicht sentimental, nicht pathetisch, nicht einmal besonders tragisch. Aber wahr, weil Menschen so sein können wie Violetta Valérie, der ganz Paris zu Füßen liegt.

Verdis Musik, die diese Theaterfigur unsterblich gemacht hat, überlässt Dorn ganz seinem Partner Daniel Barenboim. Dort ist sie gut aufgehoben. Dass es in einem Opernorchester Streicher gibt, die so spielen wie die der Berliner Staatskapelle, hätte Verdi wahrscheinlich gar nicht für möglich gehalten. Und auch sonst klingt alles wunderbar. Jedes Tempo stimmt, Dramatik und Lyrik sind fein abgestimmt und präzise gesetzt, dennoch ist spürbar, dass Barenboim Schwierigkeiten hat mit Verdi.

Die berüchtigte Orchestergitarre, die in diesem Werk besonders heftig und bewusst trivial zuschlägt, ist nicht unbedingt seine Welt. Aber das macht nichts, er respektiert sie und lässt sie mit zurückhaltender Sorgfalt spielen.

So hat Dieter Dorn das Wort, der seine Sängerin möglichst nah an die literarische Vorlage heranführt. Er hat in dem autobiografischen Theaterstück „Die Kameliendame“ von Alexandre Dumas dem Jüngeren eine Frauenfigur gefunden, die mehr enthält als das, was in Verdis„Traviata“ gewöhnlich zu hören ist.

Aufsteiger und Angeber

Krankheit und Liebesglück in einem,so etwas möchteman in der Oper lieber nicht sehen

Ja doch, Violetta ist auch hier eine „vom Weg Abgekommene“. Um das zu zeigen, lässt Dorn die Matratzengruft und die zerrinnende Zeit fluten vom Chor und dem Rest des Ensembles. Es ist die Stunde von Moidele Bickel, der Kostümbildnerin. Die Bühne ist ein einziges überquellend farbiges Panorama einer Gesellschaft von Aufsteigern und Angebern, die sich immerzu lärmend amüsieren müssen. Sie umschwärmen Vio­letta und ihre Affären. Hier gehört sie hin, und als einer der Schnösel ihr seine Liebe gesteht, lacht sie ihn aus.

Sie lügt nie, schon gar nicht mit Gefühlen. Aber sie denkt. Nach Liebe sehnt sie sich nicht. Sie möchte nur wissen, was das ist, und beschließt, diesen dummen Jungen zu lieben. Sie tut alles dafür, verscherbelt ihren gesamten Besitz, verzichtet trotzdem auf ihn, nur weil sein besorgter Vater es so will. Stolz und ungebrochen stirbt sieam Ende mit dieser einzigen Liebe im Herzen. Sie ist sogroß und echt, weil es ihre eigene ist.

Das ist Weltliteratur, wiederentdeckt von Dieter Dorn und packend gespielt von Sonya Yoncheva, die jede Nuance dieser Charakterstudie nachvollziehen lässt. Eher durch ihr Schauspiel, muss man sagen, als durch ihren Gesang. Ihre Stimme ist sehr hart und dominierend. Dennoch kann sie die extremen Höhen, die Verdi vor allem am Anfang verlangt, nur durch Schreien erreichen. Das klingt schrecklich, aber man verzeiht ihr, weil sie selbst dann die Vio­letta ist, deren Größe sie über zwei pausenlose Stunden hinweg entfaltet.

Alle anderen sind bei Dorn nur Nebenfiguren. Der Italiener Simone Piazzola singt den Vater Germont mit sehr schönem Bariton, sein Sohn ist der marokkanische Tenor Abdellah Lasri, der noch sehr jung ist. Sein Alfredo klingt näselnd und dünn, aber auf ihn kommt es sowieso nicht an in dieser absoluten Liebe einer Frau.

Nächste Aufführungen: 22., 25., 27., 31. 12.2015