Berliner Szenen: Mit Tutu
Schweiß, Schmerzen
Es war ihr Kindheitstraum. Balletttänzerin. Rosa Tutus, rosa Schuhe und diese eleganten Bewegungen. Auf der Bühne stehen, die Zuschauer glücklich machen. Tanzen. Doch Traum ist Traum und Leben auf dem Dorf ist Leben auf dem Dorf, und die Vorstellung, dass die Eltern sie regelmäßig in die nächstgrößere Stadt fahren würden, um sie dort Tanzstunden nehmen zu lassen, war derart abwegig, dass so etwas nicht einmal diskutiert werden musste.
Ein paar Jahrzehnte später lebte sie selbst in einer großen Stadt. Das Tanzstudio war nicht mehr eine halbe Autostunde, sondern ein paar Minuten mit der Bahn entfernt. Sie ging hin. Und begann mit zwanzig Jahren Verspätung zu lernen, wie eine Arabesque funktioniert.
Sie merkte schnell, dass rosa Tutus nur etwas für Kinder sind und die echte Tanzwelt mehr mit Tape und Legwarmern zu tun hat. Mit Schweiß und Muskelkater und Schmerzen, mit dem Überschreiten eigener Grenzen und der Erkenntnis, dass manche Sachen erst klappen, wenn sie vorher hundertmal schiefgegangen sind. Oder tausendmal.
Dann, eines Tages, der Trainer erzählte gerade eine Geschichte seiner Bühnenzeit und machte sich darüber lustig, dass er es trotz fehlender körperlicher Voraussetzung zu einer Karriere gebracht hatte, da sah er auf einmal durch die Reihen: „Du hast die Voraussetzungen.“ Er deutete auf eine Schülerin. Dann auf eine weitere. Dann auf sie.
Sie blickte verwirrt auf. Erst auf den Trainer, dann auf ihre Füße, auf die er auch gezeigt hatte. Doch er war schon wieder ganz woanders, beim nächsten Schritt, der nächsten Drehung. Sie blieb stehen. Fand sich dann wieder, tanzte den Rest der Stunde unkonzentriert. In der Umkleide blieb sie still, zog sich wortlos um, verließ den Raum. Niemand von uns hat sich getraut zu fragen, ob sie es lieber nicht gewusst hätte. Svenja Bergt
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