: „Wir erleben einen Putsch“
Brasilien Der Soziologe Jessé de Souza über die Krise der aktuellen PT-Regierung von Dilma Rousseff und das Fehlen eines linken Diskurses
Der 55-jährige Professer für Soziologie leitet das staatliche Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung in Brasilia (Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada, IPEA). Er hat in den letzten Jahren besonders über die sogenannte neue Mittelschicht in Brasilien geforscht.
Interview Bernd Pickert
taz: Herr de Souza, im nächsten Sommer sind in Rio de Janeiro Olympische Spiele. Glauben Sie, dass Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT die Spiele noch als Präsidentin eröffnen wird?
Jessé de Souza: Ich glaube, ja. Aber tatsächlich stecken wir in einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise. Der Rohstoffboom ist vorbei, Brasilien hatte eine Wachstumsrate von 4 oder 5 Prozent. Jetzt haben wir 3 Prozent minus, und das liegt an der politischen Krise. Was wir erleben, ist ein sogenannter „weißer Putsch“. Brasilien und Lateinamerika haben ja eine Geschichte von Militärputschen, und die sind nicht von ungefähr immer dann gekommen, wenn eine Regierung auch nur ein bisschen die unterdrückten Klassen in den Mittelpunkt rückt – das sind in Brasilien ungefähr 70 Prozent der Bevölkerung, die weder zur Ober- noch zur gehobenen Mittelschicht zählen.
Als Lula da Silva seinerzeit noch mit seinem Hintergrund als Metallgewerkschafter für die Arbeiterpartei PT für die Präsidentschaft kandidierte, gab es den großen Zusammenschluss fast aller anderen Parteien, der Unternehmer und der großen Medienkonzerne, um das zu verhindern. Nachdem er Präsident war, war diese Feindschaft verschwunden. Alles klang sehr versöhnlich, obwohl er es ermöglichte, dass ein Teil der Bevölkerung aus der Armut in die sogenannte „neue Mittelschicht“ aufrückte. Ist von dieser Harmonie nichts übrig?
Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde auch Lula angegriffen und fast von der Macht verdrängt. Aber dann konnte er einerseits die Unterstützung der 30 Prozent der sehr Armen gewinnen, die normalerweise sehr konservativ sind. Und er hat die ganz Reichen auch für sich gewonnen, weil der Boom das möglich gemacht hat. Das hat sich seit drei Jahren geändert: Die Ressourcen sind knapper geworden, und wir haben einen offenen Klassenkampf. Es gibt eine breite Offensive gegen die Sozialprogramme. Man sagt, der Staatsapparat sei korrumpiert. Korruption ist ein Riesenproblem in Brasilien, aber sie wird immer nur zum Thema, wenn es eine Regierung gibt, die irgendwie auf die Unterdrückten schaut.
Aber warum bezeichnen Sie das als „weißen Putsch“?
Es gibt ein System. Der konservative Teil der Presse hetzt das Publikum auf, die konservative Mittelschicht gibt sich moralistisch, und der Staat wird dämonisiert, während der Markt als Raum aller Tugenden gefeiert wird. Dann ruft man im Sinne von Rousseaus „Volonté générale“ ein gemeinsames Interesse aus – als ob es das gäbe! – und sucht jemanden, der im Namen der Rettung des Vaterlandes die Volkssouveränität herausfordert. Das war früher das Militär, heute ist es die Justiz.
Aber das Absetzungsverfahren, das jetzt gegen Dilma Rousseff eingeleitet wurde, geht doch nicht von der Justiz aus, sondern vom Parlament, also der Vertretung der Volkssouveränität. Das ist doch dann kein Putsch, sondern ganz demokratisch?
Es ist eine neue Version des „weißen Putsches“. Man sucht immer neue Protagonisten, die das Gleiche inszenieren können, ohne Militärs zu sein. Aber es geht genau darum: einen Ersatz zu finden für das, was früher die Militärputsche waren..
Finden Sie nicht, dass die lateinamerikanische Linke zu oft von Putsch spricht? Die Korruption der PT ist doch eine Tatsache, und ein Regierungswechsel ist in einer Demokratie ganz normal.
Es ist ein Putsch, weil die Korruption in allen Parteien präsent ist, aber nur bei einer linken Regierung zum Thema gemacht wird. Wirtschaft, Politik und Medien richten sich an den Interessen des einen Prozent der Superreichen aus. Es geht um das Rückgängigmachen jeder Politik für die Ausgegrenzten.
Warum gibt es so wenig Widerstand? Warum gehen die Menschen nicht für die PT-Regierung auf die Straße?
Wir haben uns in mehreren Studien sowohl mit den Ausgegrenzten als auch mit der angeblichen neuen Mittelschicht beschäftigt. Wir haben festgestellt, wie mächtig bei diesen Schichten die Ideologie der konservativen Evangelikalen ankommt. Und dass die Linke keinen Diskurs hinbekommen hat, der in den Köpfen geblieben ist. Im Nordosten, der ärmsten Region des Landes, benennen die Menschen zwar Lula als denjenigen, dem sie vieles verdanken. Im Süden sind die Evangelikalen sehr stark, weil auch die seelische Armut dort sehr groß ist. Diese vergessenen Menschen finden in dieser Religion breite Schultern zum Anlehnen und Aufbauen.
Wie geht es weiter? Wo sehen Sie Brasilien in zwei Jahren?
Ich weiß nicht einmal, was in zwei Wochen sein wird. Die Konservativen, diejenigen, die am meisten Geld haben, haben die PT und die linke Regierung wirklich kaputt gekriegt. Sie haben es geschafft. Aber eine echte Alternative haben sie auch nicht. Sie wollen die Staatsunternehmen privatisieren und das Geld unter sich verteilen. Das ist doch kein Ausweg!
In Argentinien ist der Konservative Mauricio Macri neuer Präsident geworden, in Venezuela hat der Chavismo bei den Parlamentswahlen schwer verloren, und in Brasilien ist die PT kurz vor dem Ende. Ist ein Comeback der Konservativen tatsächlich ein gemeinsamer lateinamerikanischer Trend nach einem Jahrzehnt der Linksregierungen?
Die Angst habe ich. Den lateinamerikanischen Domino-Effekt gibt es, manchmal verhält sich der Kontinent wie ein einziges Land, Stimmungen überschneiden sich. Aber Brasilien ist komplexer. Es hat einen ausdifferenzierten Binnenmarkt, viel mehr Menschen und viel mehr Klassen. Ich hoffe, dass diese Komplexität diesen Domino-Effekt ausgleicht.
Was meinen Sie damit?
Selbst in diesem Jahr der Wirtschaftskrise ist das Level der Ungleichheit in Brasilien weiter gesunken. Die neuen Klassen sind wirtschaftlich offenbar widerstandsfähiger, als man eigentlich gedacht hatte. Das hat sicher mit dem Binnenmarkt zu tun: Brasilien ist viel weniger von seinen Exporten abhängig als andere lateinamerikanische Länder. Es kann sein, dass man einen anderen Weg einschlagen kann.
Was für einen?
Das kann ich noch nicht sagen. Die Rechte hat kein Projekt für das Land. Und die Linke hat es versäumt, ein schlüssiges, bindendes Narrativ aufzubauen.
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