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„Ohne Musik kann ich nicht leben“

LebenEr war einer der größten Orchesterchefs, und das ganz ohne Taktstock. Er half dabei, dass die Revolution in der DDR im Jahr 1989 friedlich blieb, und stilisierte sich danach nicht als Widerstandskämpfer. Kurt Masur dirigierte auf der ganzen Welt, doch verbunden war er vor allem mit dem Leipziger Gewandhaus

von Michael Bartsch

Alles an Kurt Masur war unverwechselbar und einzigartig. Sein kraftvoller, weit ausholender Dirigierstil mit den scheinbar nervös flatternden Händen, bei dem er meistens ohne Taktstock auskam. Seine von klaren Vorstellungen bestimmte, vehemente und fordernde Art am Pult zu dominieren. Aber auch sein entschiedenes, manchmal bärbeißiges Auftreten im gesellschaftlichen und politischen Leben.

In den letzten Jahren flatterten seine Hände leider auch aus anderen Gründen: Die Parkinson-Krankheit gewann zunehmend die Herrschaft über diese starke Persönlichkeit. Am Samstag ist Kurt Masur 88-jährig auf einer Reise unweit von New York in einem Krankenhaus in Greenwich im Bundesstaat Connecticut verstorben.

Masur gehört zu einer Reihe von Künstlern verschiedener Genres, deren Talent, Fleiß und gute Ausbildung über die provinzielle Enge und Abschottung der DDR hinausführte, ja ihnen sogar Weltgeltung verschaffte. Wobei das Kriterium einer kompletten Ausbildung bei Kurt Masur gerade nicht zutrifft. 1927 im damals schlesischen Brieg geboren, besuchte er nach einer Lehre als Elektriker zunächst die Landesmusikschule Breslau. Nach dem Krieg begann er in Leipzig Klavier, Komposition und Dirigieren zu studieren. Doch schon 1948 beendete er dieses Studium vorzeitig, nicht ganz freiwillig, wie man hört. Er hatte wohl zu viel des nachts als Jazzpianist gespielt, wie sich Musikanten erinnerten.

Auf das Klavier zielten auch zunächst seine Ambitionen, doch ein Fingerleiden verhinderte die Pianistenlaufbahn. Das Talent bekam dennoch Anstellungen als Repetitor und Kapellmeister an Bühnen in Halle, Erfurt und Leipzig, später noch einmal kurz in Schwerin. Die erste wichtige hauptamtliche Stelle trat er 1955 für knapp vier Jahre bei der Dresdner Philharmonie an, der er zeitlebens verbunden blieb. 1967 wurde er hier für fünf Jahre Chefdirigent. In dieser Zeit beriet er die auch Erbauer des 1969 eingeweihten Dresdner Kulturpalasts.

Der Durchbruch kam für ihn 1960 mit der Verpflichtung als Chefdirigent an die Komische Oper Berlin durch Walter Felsenstein. In der Hauptsache aber steht der Name Masur für 26 Jahre Leitung des Gewandhausorchesters Leipzig bis zum Jahr 1996, also über das Ende der DDR hinaus. Man nannte ihn und das traditionsreiche Gewandhausorchester oft in einem Atemzug und dachte dabei an den geschmeidigen Gewandhausklang. Die vielleicht berühmtesten Aufnahmen stammen aus den achtziger Jahren, wobei ein gewisser Akzent auf Kompositionen von Ludwig van Beethoven lag. Die Statistik verzeichnet allein 900 Tourneekonzerte.

Masurs Sprung auf Konzertpodien der Welt schien folgerichtig. Mancher fragte sich allerdings auch, wie er noch in seiner Leipziger Ära ab 1991 die New Yorker Philharmoniker sozusagen nebenbei übernehmen konnte. Und wie er es schaffte, außerdem noch das Amt des Musikdirektors des London Philharmonic Orchestras auszufüllen und von 2002 bis 2008 zusätzlich die Leitung des Orchestre National de France in Paris zu übernehmen. Überdies ist er Vater von fünf Kindern und war ab 1975 in dritter Ehe mit der japanischen Sopranistin Tomoko Sakurei verheiratet.

Bei Nennung des Namens Kurt Masur klingt allerdings nicht nur der große Musiker an. Zwei kulturpolitische Taten in Leipzig verdienen eine Würdigung. Ohne seinen Einsatz und sein taktisches Gefühl für die politischen Verhältnisse hätte das neue, dritte Gewandhaus in Leipzig 1981 nicht eingeweiht werden können. Es blieb der einzige ­Konzertsaalneubau der DDR. Auch für das Mendelssohn-Haus, das Museum seines Amtsvorgängers im 19. Jahrhundert Felix Mendelssohn-Bartholdy, machte er sich stark.

Politiker und ehemalige Bürgerrechtler erinnern nach Masurs Tod vor allem an dessen mahnende und mäßigende Rolle im sogenannten Wendeherbst 1989 in Leipzig, vor allem an die Tage um die Großdemonstration vom 9. Ok­tober. „Als ich mitbekam, dass auf einmal Straßenmusiker in der DDR festgenommen wurden, die ihren Protest friedlich zum Ausdruck bringen wollten, erkannte ich, dass es überfällig war, etwas zu ändern“, blickte er später auf die Tage im Oktober 1989 zurück.

So half er am 9. Oktober in Leipzig einen blutigen Aufstand zu verhindern. Als einer von sechs Prominenten – darunter drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung – unterzeichnete er den Aufruf, in dem die Regimegegner und die Polizei zum Gewaltverzicht zugunsten eines konstruktiven Dialogs aufgefordert wurden. Es war ein Plädoyer für einen friedfertigen und dialogbereiten Umgang von Staatsmacht und Bürgern.

Über den Stadtfunk mit seinen mehr als 200 Lautsprecheranlagen erreichte der Aufruf die mehr als 70.000 Montagsdemonstranten. Masur sagte: „Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur in der Stadt Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dia­log möglich wird. Es sprach Kurt Masur.“

Über den Leipziger Aufruf „Ich war nur einer der Bekanntesten von denen, die ihre Angst überwunden hatten“Kurt Masur erinnert sich an den „Aufruf der 6“ für einen friedlichen Dialog zwischen Regime und Demonstranten am 9. Oktober 1989

Der 9. Oktober blieb friedlich. Das Datum gilt seitdem als entscheidender Tag der friedlichen Revolution in der DDR. Masur hat sich später nie zu einem Widerstandskämpfer gegen das SED-Regime stilisiert, „musste sich aber auch nicht schämen“, wie er sagte. „Ich war nur einer der Bekanntesten von denen, die ihre Angst überwunden hatten“, so blickte er auf seine damalige Rolle zurück.

Von der Krankheit gezeichnet, stürzte der weltbekannte Kapellmeister in den letzten Jahren seines Lebens mehrfach schwer. In Paris brach er sich 2012 bei einem Konzert das Schulterblatt, in Tel Aviv war es im folgenden Jahr die Hüfte. Zuletzt dirigierte Masur vom Rollstuhl aus, so wie bei seinem umjubelten Mendelssohn-Konzert mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester am 17. Juni 2014 in der Berliner Philharmonie.

Man mag sich fragen, ob dies ein würdevoller Abschied vom Pult war. Doch wer Kurt Masur beobachtete, wusste, dass er ein energischer Mann von hoher Selbstdisziplin war, der versuchte, seine Parkinson-Krankheit etwa durch Krafttraining etwas entgegenzusetzen. Ganz abgesehen davon, dass er ­Musik immer als sein Lebenselixier bezeichnete.

„Ohne Musik kann ich nicht leben“, lautete sein wohl am meisten zitierter Satz, der sich nun auf traurige Weise erfüllt hat. Kurt Masur hat der Interpretation sinfonischer Musik seinen ganz eigenen Akzent hinzugefügt. Und er ist darüber hinaus als einer der Weichensteller für den friedlichen Verlauf der „Kerzenrevolution“ in der DDR schon jetzt in die Geschichtsbücher eingegangen.

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